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Verneigung vor Derrida

Anleitung zur Dekonstruktion – ein Versuch


Wie ist das Wort Dekonstruktion zu verstehen? Wie gehen die beiden konträr sich entfaltenden Bewegungen von Destruktion und Konstruktion, die in dem Wort anklingen, zusammen? Tatsächlich ist Dekonstruktion zunächst nicht als ein Begriff, sondern als eine in ihrer Form bewegliche Art und Weise des Denkens, Verstehens und Auffassens zu entfalten – eine Bewegung die in jedem Zeichenprozess stets verborgenerweise mitschwingt. Und vielleicht ist sie auch mehr ein bestimmter Gestus des Fragens als eine konkrete Antwort – ein Versuch, das Gegebene und Bestehende mit Fragezeichen zu versehen und so das an sich starre und fixierte begriffliche Denken in eine neue Beweglichkeit zu überführen.


Christoph Schmassmann


Dekonstruktion meint in der hier verfolgten Annäherung eine Spielart des französischen (Post-)Strukturalismus, die in ihrer Form von Jacques Derrida begründet wurde. Ihre Kraft und Durchschlagskraft schöpfte sie nicht nur aus einer Zeit, in der übergreifende Gedankenmuster und Formen undicht und in ihrer Form inkohärent wurden, sondern auch ihren Wurzeln, in denen sich die von Foucault entworfene Diskursphilosophie und vorgezeichneten kulturwissenschaftlichen Perspektiven und zeichentheoretische Prozesse, wie sie Roland Barthes initiierte und umrissen hat, schliesslich und endlich vereinigen konnten. Nicht zuletzt verdankt die Dekonstruktion dem Psychoanalytiker Jacques Lacan einen ihrer stärksten Impulse: er plädierte schon sehr früh für eine differenzierte und differenzierende Herangehensweise an und Umgang mit Freuds Psychoanalyse, die sich gegen jegliche Kategorisierungen der menschlichen Psyche verweigert, da sich diese inhärent und vehement gegen diese zu sperren scheint.

 

Zugänge

Die Dekonstruktion rechnet mit einer prinzipiellen Unabschliessbarkeit des Sinns und somit des Verstehens. Sie etabliert einen Begriff und eine Auffassung von Kontext, in den sich jegliches vermeintlich einheitlich gesetztes Sinnsystem auflöst. In dieser Verlagerung zugunsten des Kontextes – in einer Bewegung der Dezentrierung – finden stetige Sinnverschiebungen statt und eine Bewegung, Entzerrung und Ausbreitung setzt ein, welche schlussendlich nie gesättigt werden kann. Die Bewegung, die sich schliesslich zu etablieren versucht, ist ein permanentes Gleiten und Verschieben des Sinns. Neben dem Moment der De-struktion schwingt also stets ein nicht zu unterschätzendes Moment der Kon-struktion mit, die sich gleichzeitig vollzieht. Dieser doppelte Gestus zwischen der radikalen Demontage vorgegebener Begriffsgerüste, die das Verstehen in diesem Sinne determinieren, und dem gleichzeitigen Bewusstsein, nicht ohne einen (wenn auch in vielerlei Perspektiven sich auffächernden) Sinn auszukommen. Ursprünglich ein Verfahren der Exegese von traditionellen Texten der Philosophie, weitete sie sich schnell über deren Grenzen aus auf Literatur im Allgemeinen bis hin zu einem Verfahren, sich den Fragen der Kultur (verstanden als einer Textur hin zu der Fokussierung der performativen und neu- wie umformenden Kräfte, die in ihr spielen) zu nähern. Schliesslich gilt es den Bezug zur Postmoderne herzustellen, in der die übergreifenden Begriffsgerüste der Moderne mitunter undicht werden und sich ineinander aufzulösen beginnen, und die enorme Bedeutung von Derridas Denkbewegung und Subvertierung der philosophischen Tradition muss herausgestrichen werden.


Begriffe in Bewegung

Begriffe erlangen ihre Bedeutung in einem (Sprach-)System auch und gerade, indem sie sich voneinander unterscheiden und nicht dasselbe bezeichnen oder bedeuten. Doch in dem Para-Konzept der Dekonstruktion ist das Spiel der (mitunter sprachlichen) Differenzen, die in jedem Zeichen-System angelegt sind, mit einem Mal nicht mehr an einigermassen stabile oder einheitliche Formen gebunden, sondern verläuft als ein Prozess des ständigen Sich-Unterscheidens und Aufeinander-Verweisens von Sinnsystemen. Dieser Prozess (Derrida nennt ihn selbst die différance), der auch und gerade in den Zeichenwelten eines Kultur-Raumes spielt, hat keinen festen Grund noch Zentrum: anders gesagt – weder das Bedeutende noch das von ihm Bedeutete lassen sich in der Form eines hierarchischen Verhältnisses aufeinander beziehen. Es ist das Aufwerfen einer konkreten Existenz, ihres Erscheinens und ständigen Wieder-Entziehens, Neu-Verweisens und Sich-Auflösens. Es klingt also das sich stete Aufschieben und Verschieben des Sinns an. Dies kommt in seiner Form der dissémination einem Zerstreuen des Samens gleich: als konkretes Bild aufgefasst verweist es letztlich auf das Zerstreuen des Sinns, der in unterschiedlichen Kontexten je wieder ganz neue Sinnsysteme aufkeimen lässt. Jegliche in diesem Sinne textuelle Bedeutung entsteht stets im Prozess dieser Wechsel-Struktur, einer in sich vernetzten Verflechtung zwischen den sich zwar unterscheidenden doch nichtsdestotrotz aufeinander verweisenden Zeichensystemen und ist prinzipiell über die gesamte Vielfalt von Sprach- und Kultur-Räumen verstreut. Diese werden so polymorph, vielgestaltig und stets von neuem ausdifferenzierbar im Prozess ihrer eigenen Verzeitlichung – und so quasi erst füreinander fruchtbar.

 

Texte als Kontexte

Schliesslich etabliert sich gerade die Wandel- und Verwandelbarkeit einer jeglichen Sinneinheit. Diese kann aus ihrem angestammten Kontext herausgelöst und als Zitat, das auf diesen zurückverweist, in einen neuen Sinn-Raum verpflanzt werden, und vermag so prinzipiell unendlich viele neue Kontexte zu zeugen. Der höchst kreativ-erzeugende Prozess der De-Kontextualisierung und erneuten Re-Kontextualisierung ist hierbei als Schlüssel zu einer dekonstruktivistisch organisierten Sinnschöpfung zu verstehen – in Derridas Konzept der itération klingt so das Wandern der Kulturen an, ihre stete und unhintergehbare Verwandlung als ein stets neu im Zeigen sich entziehendes Erschaffen im Prozess des Verstehens. Und so entsteht und vollzieht sich jenes Auffächern und Zerfallen des Sinns in die aus unterschiedlichen Stätten der Kultur entnommenen (in dem hier skizzierten Sinne zitierte) Sinn-Fragmente, welche wie in einem Kaleidoskop stets neue Sinnsysteme und Verweisungsstrukturen ausbilden. In der Bewegung der Dezentrierung schliesslich ist schlussendlich konkret das Verschieben des Fokus auf das von einem gewissen Diskurs oder einer Kultur Marginalisierte und an den Rand Verdrängte fassbar zu machen. Es kann davon gesprochen werden, dass jedes (Sinn-)System an seinen Rändern in seine Widersprüche verstrickt werden kann, mit dem, was es zugunsten seiner absoluten Setzung ausblenden muss, wie etwa das Unbewusste stets in seiner Tektonik in das Bewusstsein vordringt und als eine Spur (trace) in dieses eingeschrieben bleibt – es so unterläuft und mitbestimmt. Ihm konträr zu setzen ist das zentrierte Denken, dass seit Platon von einem festen universalistisch konzipierten Kern, einer Essenz ausgeht. Gegen dieses setzt Derrida das Konzept der Dezentrierung und somit einer unabschliessbaren, ständigen Semiose und Pluralisierung von Sinn.

 

Denken in Bewegung

Was sich in der Folge etabliert, ist keine schematisch anwendbare Methode, sondern eine gewissermassen subversive Annäherung an Texte (verstanden als ineinander verflochtene und in sich verzeitlichte Sinnräume der Kulturen), die diese von innen her in ihrem potentiellen Bedeutungsüberschuss in die Verästelungen auflöst, die in jeglichem Sinnsystem selbst angelegt sind. Das Aufzeigen der letztlich paradoxen Struktur einer jeden absoluten Setzung im philosophischen Verstehen und Begreifen der Welt wird so aufgezeigt, indem die dem Text inhärenten Widersprüchlichkeiten offengelegt werden. Das Postulat, dass sich die Statik des Sinns verschiebt hin zu einem steten Gleiten desselben, ist somit als nächstes hervorzuheben. Kultur als konstruiertes und in sich relationales Gebilde ist dabei die zentrale Erkenntnis, deren Relativität und geschichtliche Gewordenheit – weg von dem Eindruck, dass die bestehenden Ordnungen, Hierarchien und Machtgefüge eine „natürliche“ Ursache haben und ein allgemeingültiges System darstellen.


 

Versteht man Kultur(en) als Text – und das heisst auch als ein Zeichensystem, verschiebt sich so der Fokus hin auf die performativen und die bewegenden wie stets umformenden Kräfte, die in dieser spielen. Alles, was vermeintlich als Essenz gesetzt wird, ist so erneut befragbar und über den Weg der Dezentrierung und Fokussierung des Marginalisierten von seiner eigenen gegen aussen behaupteten Absolutheit rückführbar in seine Relativität – und wird gerade und erst dadurch neu ausdifferenzierbar im Zuge seiner eigenen und letztlich in ihm selber angelegten Dekonstruktion, öffnet sich so dem Neuen und wird zukunftsträchtig in seiner eigenen ihm inhärenten Verzeitlichung. Dafür und nicht zuletzt deswegen erlangt die Dekonstruktion (mit ihren Bewegungen der différance, der dissémination und der itération) ihre Stellung im Gefüge einer Kultur, die ohne sie in ihrer subversiv-convulsierenden Weise nicht wäre, sondern in starren und ein für alle mal festgelegten und gesetzten Grenzen absterben muss, weil sie sich nicht erneuern kann – ohne die sie sich nicht fortsetzen würde.

 

Literatur zum Thema:

Jacques Derrida. Randgänge der Philosophie. Passagen Verlag 1972.

Jacques Derrida. Die Schrift und die Differenz. Suhrkamp Verlag 1976.

 


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