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Wissen als Prozess

Performative Wende – und ihr Impact



In den 90er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts transformierten sich durch das Bewusst-Werden der performativen Prozesse, die ein mögliches Wissen allererst konstituieren, unterschiedlichste Wissenschaftszweige (wie die prominentesten unter den Kultur-, Politik- und Geisteswissenschaften und allen voran den Sozialwissenschaften) hin zu einer neuen Form und Darbietung von Wissen, welches so flüchtig und niemals fest gespeichert wird, sondern sich fluid und als permanenter Prozess sich organisiert.

 

Christoph Schmassmann


Diese verstanden sich auch und gerade im Rückbezug auf den französischen Poststrukturalismus und die durch ihn vollzogene Dekonstruktion des abendländischen Logos[1] als Felder, in denen sich die ihrer Disziplin eigenen wissenschaftlichen Gegenstände in einer steten Unverfügbarkeit darbieten.[2] Es verbleibt immer ein notwendiger Rest, der sich der Aneignung durch das wissenschaftliche Denken und deren Ordnungssysteme permanent zu entziehen scheint. Jener stete, der Wissensgenerierung eingeschriebene Konflikt begann sich durch das Paradigma des Performativen aufzulösen und jener Shift in der Perspektive vollzog sich, der per se gerade das zu fokussieren versucht, was sich entzieht (wie dies beispielsweise schon bei Roland Barthes Versuch im Aufzeigen von Studium  und Punctum anklingt,[3] welches später stilbildend werden sollte). Dem prozessual sich organisierenden Verstehen und dessen performative Auslegung von Wissen gilt es stets Rechnung zu tragen und in diesem Sinne sich wieder bewusst zu werden, wenn man sich auf die Grenze des Sagbaren wie Denkbaren zubewegt im Versuch gerade über das, was sich nicht fassen lässt, zu sprechen. 

 

Herleitung

Parallel zu performativ turn in den Künsten vollzog sich in den 60er Jahren in der Wissenschaft der linguistic turn, der dem Umstand Rechnung trug, dass letztlich das Denken und somit Wissen (in der Form von Texten mediatisiert) sich sprachlich organisiert.[4] Die Erkenntnis, dass Wissen sich an sprachliche Strukturen anpasst und von diesen strukturiert wird, führte schliesslich auf den Umstand hin, dass damit letztlich auch das Bild, das sich von der Wirklichkeit ergibt, sich immer nur in Form von sprachlich strukturierten Inhalten darbieten kann. Und eine Auffassung von Kultur als Text erhob sich zum wissenschaftlichen Paradigma.

Es standen sich somit in Kunst und Wissenschaft die beiden Verfahrensweisen der Präsenz (und performative Prozesse in Form von Aufführungen) und der Repräsentationen (einer Abbildung der Wirklichkeit qua Sprache) gegenüber, die gleichzeitig die Grenze der beiden Bereiche bildeten. Innerhalb der Wissenschaften vollzog sich schliesslich jene performative Wende erst dreissig Jahre später in der 90ern, die mit ähnlichen Implikationen wie für die performativen Künste verbunden ist, wie es hier noch zu entwickeln gilt. Phänomene der Emergenz, der Autopoiesis von Wissen und der Aufhebung von starren, binären Ordnungen und Strukturen sind deren wichtigste Merkmale, wobei zudem das Verhältnis von Wissen und Macht zu Gesellschaft und Politik diskutierbar werden soll. 

 

Performative Wende – als Shift der Perspektiven

Der performativ turn vollzog sich somit in einer ganzen Folge von Verschiebungen in der Auffassung, wie Denken und Wissen organisiert ist. Die beiden Bereiche der Repräsentation und der Präsenz beginnen sich in der Darstellung von Wissen zu vermischen.[9] Wissen organisiert sich nun quasi als Aufführung und emergiert oder erscheint in einem Akt der Bedeutungszuschreibung. Eng damit verbunden ist eine Verschiebung der Auffassung von Kultur als Text hin zu der Wahrnehmung vielmehr einer Berücksichtigung der performativen Kräfte, die in ihr spielen und sich in ihr und durch sie hindurch entfalten. Die Vorstellung, dass in einer Art kreativem Akt aus den interagierenden diskursiven Feldern, die sich entfalten, neues Wissen entsteht, wurde eine neue Auslegung der Wissensgenerierung mit der performativen Wende (performativ turn) in die Wissenschaft im Allgemeinen getragen.[10] Wissen ist demnach nichts Vorgängiges, das entdeckt wird, sondern im (performativen) Akt seiner Setzung, seinem Gedacht-Werden erst entsteht und Wirklichkeit erlangt mit allen Folgen und politischen und gesellschaftlichen Implikationen und Verschiebungen, die die Auffassung dieser Akte mit sich bringt.

So wird im Zuge der performativen Wende in den 90er Jahren Wissen gerade auch in seiner performativen Hervorbringung und in der Emergenz von Bedeutungen nach und nach als Schauspiel erfahr -und lesbar. Bei Peter Matussek zeigt sich so auf der Ebene einer theatralen Form der Wissenspräsentation eine Wiederentdeckung des Gedächtnistheaters.[11] Die Spielweise von Giulio Camillos dieser in seiner Auslegung hoch kreativen, mitunter subversiven Form und Umsetzung in der Gestaltung von Wissensinhalten stellt sich dem gedankenlosen mechanischen Informationsabruf entgegen.[12] Es verlangt und erfordert eine deutende, schöpferisch-imaginierende Eigenaktivität des Rezipienten und seine produktive Eigenleistung vermag so neue Innovationspotentiale zu entdecken und in der performativen Hervorbringung freizulegen. Es kommt dabei nicht allein auf die dispositio (die Anordnung des Wissens) an, sondern ebenso sehr auf die inventio (die Erfindung von Wissen in der Eigenkreativität). Für ein mögliches Anknüpfen einer postmetaphysischen, dezentralisierten Gegenwart an die Gedächtnistheater-Tradition stellt Robert Edgar eine ganz entscheidende Frage:

«Ich fragte mich, wie sieht eine Kunst des Erinnerns heute aus, wenn keine Kosmologie mehr fähig ist auch nur einen einzelnen Text (erschöpfend) zusammen- (respektive auf-)zufassen.»[13]

 

Innovation und Kreativität

Der innovative Aspekt bei der Schöpfung von Wissen wird mitunter zentral, denn erst aus den Kombinationen von unterschiedlichen Feldern und Bereichen von Wissen ergeben sich assoziativ die Bedeutungen. Mitunter entfaltet sich in Robert Fludds Konzeption seiner installativen Anordnung des Wissens im Raum, wie er es als avantgardistischer Weiterentwicklung des Gedächtnistheaters in «Fludds Room»[14] eröffnet, eine Dynamik expressionistischer, kubistischer, futuristischer, surrealistischer und dekonstruktivistischer Elemente. Aus der Konstellation der Räume ergibt sich eine permutative Ordnung, bei der die magischen und enzyklopädischen Aspekte der historischen Gedächtnistheater eingebettet sind in ein inventives Arrangement, das im Zusammenspiel der projektiven Illusionen und der Imagination des Betrachters individuelle Bedeutungen generiert. Ganz wichtig bleibt in diesem Zusammenhang, dass der so entfaltete Diskurs und seine individuelle Bedeutung in einem Verhältnis von Projektion und Reflexion stehen und in jenem dynamischen Zwischen (ohne festen Punkt des Ausgangs oder der Referenz) entfaltet sich letztlich das Wissen in freien Assoziationen, Verwerfungen und möglichen Ausdifferenzierungen in der Kontingenz der Erscheinungen in der Zeit. Der in diesem Sinne produktive Rezipient konstruiert in Interaktionen mit der Umgebung und assoziativen Querverbindungen im Erleben über den imaginierenden Körper in der Erfahrung einer virtuellen Realität.

 

Fragen und Kontexte

Ob von dieser die Zeit übergreifenden Spielweise des Theaters und der medialisierten Kunst auch Impulse für zukünftige Entwicklungen in der Wissenspräsentation ausgehen können, hängt davon ab, ob sich die Bereitschaft und Fähigkeit entwickelt, ästhetische Kriterien in den Umgang mit Informationen einzubeziehen.[15] Es bleibt ein wichtiger Appell an die Erfahrungs- und Deutungskompetenz der in sich wiederum produktiven Rezeption und an die Bereitschaft, sich unbekannten Erfahrungsräumen zu öffnen. Diese Form der kreativ-ästhetischen Erscheinung und Aufbereitung von Bedeutungen lebt letztlich von der Differenz, den unhintergehbaren Zwischenbereichen in der Auslegung und Deutung von neu generierten Wissensfeldern und -inhalten und es erscheint die Wiederverzauberung der Welt eine ihrer grössten Auswirkungen.[16]

 

Anmerkungen und Verweise

[1]         Vgl. hierzu auch unbedingt den Abschnitt «Grenzdestabilisierungen – Kultursoziologie und Poststrukturalismus» in: Reckwitz, Andreas. Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. transcript Verlag. Bielefeld, 2008. (S. 301-320).

[2]                Vgl. ebd. (S. 314-316).

[3]         Barthes, Roland. Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main, 1985.

[4]         Vgl. zum Begriff des «linguistic turn» Stierstorfer, Klaus. Linguistic turn. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Vierte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart / Weimar, 2008. (S. 424-425).

[9]         Vgl. Pfister, Manfred. Performance / Performativität. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Vierte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart / Weimar, 2008. (S. 563-564).

[10]       Vgl. ebd. (S. 564).

[11]       Vgl. in der Folge: Matussek, Peter: Der Performative Turn. Wissen als Schauspiel. In: Fleischmann, Monika. Reinhard, Ulrike (Hrsg.). Digitale Transformationen als Schnittstelle von Kunst, Wirtschaft und Gesellschaft. Heidelberg, 2004. (S. 91-94).

[12]       Zu Camillos Gedächtnistheater in der Folge den Eintrag von Kreuder, Friedemann. Gedächtnis. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Vierte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart / Weimar, 2008. (S. 119).

[13]       «what, I wondered, would an art of memory be like today, when no cosmology can summarize even a single text.»

Robert Edgar in der als Kunstwerk konzipierten Installation. Memory Theater One. 1985.

[14]       Der englische Philosoph und Mystiker Robert Fludd entwickelte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert darin ein Gedächtnissystem, das an das System von Camillo anknüpfte.

[15]       Vgl. hier und in der Folge Matussek, Peter: Der Performative Turn. Wissen als Schauspiel. In: Fleischmann, Monika. Reinhard, Ulrike (Hrsg.). Digitale Transformationen als Schnittstelle von Kunst, Wirtschaft und Gesellschaft. Heidelberg, 2004. (S. 94).

[16]       Vgl ebd.

[17]       Hierzu das Kapitel «Kunst und Leben» bei Fischer-Lichte, Erika. Ästhetik des Performativen. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main, 2004. (S. 350-362).

[18]       Vgl. ebd. (S. 351).



 

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