Die Lehre vom Spazierengehen
Der inziwschen emeritierte Professor für Soziologie der Universität Basel Ueli Mäder hat in den vergangenen Jahren zum Thema der Hafen- und Stadtentwicklung ein zwei Bände umfassendes, prominentes und nicht weniger kritisches Buch herausgegeben. Mit dem Titel “Raum und Macht“ kreist es den Themenkomplex ein und eröffnet einen Diskurs, der nach dem Nexus von Machtstrukturen und der Nutzung des öffentlichen Raumes fragt. “Die Stadt zwischen Vision und Wirklichkeit“ – so der Untertitel und weiter: „Leben und Wirken von Lucius und Annemarie Burckhardt“. Und der darin erwähnte Soziologe, Philosoph und Kunsthistoriker mit Namen Lucius Burckhardt ist gleichtzeitig eine prägende Figur in der Entwicklung der Spaziergangswissenschaften oder auch Promenadologie.
Christoph Schmassmann
Wenn man so will, kann man darin die Lehre des Spazierengehens betrachten. Und dieses Konzept beschäftigt sich einerseits mit der menschlichen Wahrnehmung und widmet sich in erster Linie der Erschliessung des Raumes, während man ihn durchschreitet: also wie man in der Entfaltung der Wahrnehmung und in der Bewegung durch den Raum zu neuen Beobachtungen, Gedanken und Ansichten gelangt.
Raum und Macht?
Natürlich wirft sich zunächst folgende Frage auf: was hat Raum mit Macht in direkter oder auch indirekter Weise genau zu tun? Was ist damit gemeint, wenn man den Nexus in erster Linie betrachtet: die Macht meiner Wahrnehmung über den Raum oder vielleicht eher die Macht des Raumes, den ich wahrnehme? Ein ganz wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist folgende Beobachtung mit einem leicht phänomenologischen Einschlag aus dem Werk “Warum ist Landschaft schön?“ von Lucius Burckhardt: „So bedient sich der unsere Kopf einer Palette von in der Umwelt vorgefundenen Erscheinungen: Farben, Strukturen, erkennbar natürliche Zusammenhänge und Zeichen menschlicher Eingriffe.“ Doch weiter heisst es: „jedoch hinkt auch dieser, wie jeder richtige Vergleich: die Erscheinungen der Palette sind von zu unterschiedlicher Art, als dass sie auf einer Ebene nebeneinander liegen könnten. (…) die Schicht der blossen Erscheinung der Farben – eine kompliziertere Schicht beginnender Erkenntnis (…) eine Schicht in der schon Soziales sichtbar wird (…) die Zeitdimension.“ Die Landschaft die ich sehe und erkenne ist also im Wesentlichen eine mentale Leistung. Sie entsteht in der Gedankenwelt dessen, der sich durch sie bewegt: die tatsächlichen Wahrnehmungen vermischen sich mit den eigenen Gedankenmustern und inneren Bildern des Betrachters und es entsteht eine sogenannte Melange – eine Mischung also aus der erfahrenen Realtiät und vorgefertigen Idealen, Mustern und Gedankenbildern, wie es sehr deutlich aus folgendem Zitat aus Lucius Burckhardts Werk ablesbar wird: „Die Landschaft ist ein Konstrukt. Und mit diesem schrecklichen Wort soll nichts anderes gesagt sein, als dass die Landschaft nicht in den Erscheinungen der Umwelt zu suchen ist, sondern in den Köpfen der Betrachter.“
Höhlengleichnisse oder die Idee des Ideals
Was letzlich entsteht, ist also ein Ideal, eine Idee oder auch Abbild einer Landschaft, die so nur bedingt (nämlich in der Wahrnehmung des Betrachters) existiert. Und an genau diesem Punkt setzt die Forschung von Lucius Bruckhardt an: Es gilt Wahrnehmungskonventionen zu hinterfragen und neue Formen der Betrachtung zu finden. Anders gesagt, müssen Idealbilder aufgebrochen werden und der Spaziergänger soll mit geschärften Sinnen dem Raum und der Gesellschaft begegnen. Eine Wahrnehmung also, die sich stärker an der Gesellschaft und den realen und direkten Zuständen misst. In den 1950er und 60er Jahren – also schon sehr früh – wurden schliesslich von Lucius Burckhardt planungskritische Schriften veröffentlicht – wie bespielsweise unter dem Titel “Wir selber bauen unsere Stadt“. Das Ziel seiner Spaziergänge und Exkursionen durch die Nährböden der Gesellschaft und seiner immer wieder perplexen und kritischen Beobachtungen, welche er seine Leser machen lässt, ist es also, den stereotypen Bildern der Stadtplaner die wirklichen Bilder und tatsächlichen Realitäten der Bewohner vor Augen zu führen. Diese finden üblicherweise jenseits von eingeübten Wahrnehmungsmustern statt und lassen eine Vielfältigkeit entstehen, wo ansonsten allzu schnell Homogenität behauptet wird. Also dass man erkennt, wie sich durch die Bewegung im Raum und die Zeitdimension auch die Umstände verändern, an denen man misst. Gleichzeitig gilt es die eigene Massgabe nicht zu unterschlagen und sich so der Vielgestaltigkeit und Wandlungsfähigkeit zu öffnen.
Stadtkritik
Gleichzeitig gilt es sich kritisch zu verhalten: nicht nur sich selber gegenüber, sondern auch den unterschiedlichen Realitäten und kollektiven Denkmustern gegenüber: „Unser Unterricht, insofern er sich auf die Stadt bezieht, möchte sichtbar machen, was eigentlich allgemein zugänglich und sichtbar ist, aber offenbar vom Städter nicht mehr wahrgenommen wird.“ Und schliesslich bringt er es sehr schön auf den Punkt, wenn es heisst: „Ziel der Spaziergänge ist es also, den stereotypen Bildern der Stadtplaner und der Grünplaner die wirklichen Bilder des Stadtbewohners entgegenzusetzen.“ Und so werden die unterschiedlichen Bilder mitunter lesbar, als vielschichtige und mehrdimensionale Konstrukte des Geistes, die sich wie alle Systeme und Strukturen auch dekonstruieren lassen – so kann die eigene Wahrnehmung überführt werden in einen ereignishaften Prozess der Bilder, der Gedanken und der Gesellschaft in Bewegung. Dies führt natürlich wieder zurück zu Lucius Burckhardt und seinem Verständis und seinen Beobachtungen im Sinne der Spaziergangswissenschaften und den drei grossen Fragen, die sich uns allen stellen: Wie können wir – ähnlich wie Lucius Burckhardt – die Gesellschaft im Fokus unseren Blick verfremden und einen Bruch mit der Wahrnehmung erzeugen? Wie können wir herkömmliche Wahrnehmungsmuster hinterfragen und durchbrechen? Und natürlich auch wie man es schafft, unsere Umwelt und die gesellschaftlichen und machtpolitischen Strukturen zu verändern und mitzugestalten?
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