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Kleine Ästhetik des Aphorismus

Gedankensplitter



Es gibt bis heute keine sehr umfängliche Aphorismusforschung. Erscheinen sie doch in der Kürze ihrer Form mehrheitlich als Stiefkind des philosophischen Gedankens. Zu unrecht wie hier vorweg genommen werden kann. Sie entspringen letztlich aus dem Konflikt zwischen sinnlicher und reflexiv nicht fassbarer, rein ästhetischer Erfahrung und prägnanter nichtsdestotrotz fixierter und sinnhafter Fassung. Und gerade ihre vermeintliche Kürze, aus der sich ihre Wirkung ableitet, macht sie zu kleinen Pfeilen in die jeweilige Gedankenwelt eines geneigten Lesers – entfalten sich in ihm und führen ihn über das Perplex, die seine eigene Kreativität stimulieren, zu neuen Einsichten.


Christoph Schmassmann


Doch werden sie nicht in ihrer reinen Kürze oder vielleicht auch Unvollständigkeit auf- und wahrgenommen, sondern fordern strenge Rechenschaft vom Rezipienten, laden zu eigenen Reflexionen ein und fordern zum Weiterdenken heraus: „Ist es wahr? Inwiefern? Wie kam der Denker auf ihn? Und was hat er für Folgen?“ Und so leiten sie gerade in ihrer Kürze einen Prozess des Denkens ein, der sie weiter trägt als klar bestimmte und zu bestimmende philosophische Texte.


Emotion und Reflexion

Letztlich kommt es darauf an, dass es Erkennen im Sinne reinen Denkens gar nicht gibt, dass vielmehr jedes Erkennen immer zugleich ein Sich-Verhalten unter mannigfaltigen Bedingungen ist. Mit der Entdeckung, dass es letztlich unvermeidbar ist, die Situation aus der heraus erkannt wird, in den Erkenntnisakt in aller Bewusstheit und rationalen Schärfe mit aufzunehmen, erscheint der Aphorismus von beträchtlicher Wirkung bis ins 20. Jahrhundert. Hier wird zunächst – und bevor der Einstieg über philosophische und wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge zu suchen sein wird – der eine zentrale Gedanke leitend sein: neben die logische Wahrheit muss eine ästhetische treten: nicht im Sinne eines einfachen Entweder-Oders sondern in der From eines Miteinanders sowohl affektiv-ästhetischer und kognitiv wie reflexiver Impulse. Die Überlegungen gehen von der Beobachtung aus, dass jeder kurze Prosatext, jeder Merk- oder Lehrsatz seit den Aphorismen des Hippokrates zwei Richtungen besitzt: die durch die Sprachform begünstigte Tendenz zur verallgemeinernder, bündiger Raffung einerseits, die Herausforderung zu spezifizierender und verifizierender Anwendung des Generellen auf das Einzelne andererseits. Beide Momente sind nicht ohne Schwierigkeit vereinbar. So wird vom Konflikt zwischen Einzelnem und Ganzem gesprochen als dem durchgehend wirksamen Spannungsgesetz, unter dem aphoristische Texte stehen.


Zur Gattungsgeschichte

Der Versuch Herders eine „Phänomenologie des Aphorismus“ zu entwerfen reicht relativ weit bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück. Gerade Herder, der in dieser Zeit als erster ein literarisches Fragment (also ein unfertiges und in diesem Zusammenhang unvollständiges Werk) veröffentlicht hat, erscheinen aphoristische Sentenzen als etwas Organisches, das sich aufnehmen, entwickeln in geeigneter Atmosphäre zur Reife bringen lässt. Für ihn stehen sie denn auch ganz stark in dem Spannungsmoment zwischen der Maxime, einer in sich geschlossenen und Ganzheit beanspruchenden Form, und dem Fragment – das in sich splitterhaft und unvollständig erscheint und so über seinen jeweiligen Deutungszuusammenhang hinausweist. August Wilhelm Schlegel hat den Aphorismus schliesslich als eine Form zu etablieren versucht, die gegen das systematische Denken gerichtet ist, wobei der einzelne Text bald als als Splitter bald als in sich geschlossen gedacht wird. Die bis heute nicht sehr umfängliche Aphorismus-Forschung folgt Schlegel zumindest in diesem Punkt. Es zeichnen sich innerhalb der Forschung so zwei sich konterkarierende Standpunkte ab, die sich auf zwei unterschiedliche Interpretationen des Wortes aphorizein berufen: als „abgrenzen, abschneiden oder abtrennen“ einerseits und „von einem Horizont abheben“ andererseits. Auf der einen Seite wird der Aphorismus also als ein in sich Geschlossenes, Isoliertes oder auch Selbstständiges abgehoben, in jedem Fall aber Weltloses ohne Bezug auf ein ganzes Umfassendes entwickelt. Doch auf der anderen Seite wird er gerade durch sein Verhältnis zu einem umgreifenden Verstehenshorizont bestimmt. Dies freilich in einer ungewöhnlichen, den herkömmlichen Weisen des Einordnens wiedersprechenden Weise. Zwischen diesen Positionen wird selten zu vermitteln versucht. So wird die paradoxe Struktur des Aphorismus betont, die aus dem doppelten Blick auf Wort und Idee, dem Konflikt von Gestalten und Reflektieren resultiert. Die Zwischenstellung und vermittelnde Funktion wird durch den Gedanken bezeichnet, der Aphorismus ist mehr als die Gelegenheit aus der er entspringt aber weniger als der Begründungszusammenhang, in den ein streng philosophisches Vorgehen ihn stellen müsste. Es werden oft Grenzen zu Begriffen (Nebenformen) wie Fragment, Maxime, Sentenz, Reflexion gezogen – wo Abschattierungen genügen müssen, da die Begriffe sich vielfach beleuchten und ineinander verzahnt sind.


 Grenzexistenzen

Es kann also letztlich in der gegenseitigen Abgrenzung und Bestimmung von einem Dasein auf der Grenze gesprochen werden und wer ausser der auch von Nietzsche hoch geschätzte Lichtenberg kann in diesem Zusammenhang als Leitlinie dienen. Seine Notizen begründen nahezu alle Möglichkeiten deutscher Aphoristik. Menschliches Erkennen vollzieht sich in seinem Sinne zwischen geschichtlicher und aktueller Erfahrung, zwischen naiver Beobachtung und strenger Abstraktion. Die Erkenntnissituation muss unwiderruflich gemischt bleiben. Das nie fixierbare aber immer manifeste „Fluidum des Menschlichen“, in das alles Erscheinende, jede Aktion und Reaktion eingebettet bleiben, bestimmen für ihn jegliche Form der menschlichen Wahrnehmung und der daraus resultierenden Erkenntnis. In einer bestimmten sehr konkreten und durch atmosphärische Bedingungen kontrastreichen Situation – in einem Spannungsfeld von zutiefst menschlichen Befindlichkeiten – eröffnen sich Lichtenberg bisher ungedachte Gedanken. Seine Diagnose: der menschlichen Erkenntnissituation – als einer wesentlich gemischten – erscheint das Denken selbst als ein Ineinanderwirken von reflexiven und in dem oben beschriebenen Sinne atmosphärischen oder gefühlshaften Elementen. Das ist letztlich so zu verstehen, dass Situierung einer Reflexion und Reflektieren einer Situation für Lichtenberg jene beiden Prozesse sind, die allein Erkenntnis ermöglichen. Und so gewinnt gerade die Metapher der „ausgeflogenen Nester“ in diesem Zusammenhang besondere Spannung: sprachlicher Fixierungen werden leer sobald die verstreichende Zeit und der lebendige Wachstumsprozess ihnen den realen Kontext nimmt, sie aus der realen Situation herauslöst. Das Interpolieren zwischen Ratio und Irratio, die Erkenntnislage zwischen Gedanke und Nicht-Gedanke als eigentliche Vorbedingung zur Gewinnung höherer Einsichten mündet in ein unablässiges Interpolieren zwischen Allgemeinem und Abstrakten einerseits und einem Konkreten und Sinnlichen andererseits. Vor allem kommt es Lichtenberg darauf an, während eines solchen interpolierenden Denkprozesses beide Seiten im Augen zu behalten: das Individuelle im Allgemeinen nicht zu verwischen, umgekehrt aber das Allgemeine nicht ungeprüft dem Individuellen überzustülpen. Als bald taugliches bald untaugliches Mittel solchen Verbindens erscheinen ihm immer wieder Stil und Sprache. Es wird zum Beispiel in aller Klarheit gesagt, dass Sprache den Konflikt zwischen Einzelnem und Allgemeinem (dessen Spannungsfeld jedem Erkenntnisprozess zugrunde liegt und der bewusst bleiben muss) verdeckt oder doch verdecken kann, weil in jedem Wort Einzelnes und Allgemeines (je nach Kontext und Verstehenssituation) zugleich gemeint sind. Erkenntnis erweist sich also als Konflikt zwischen Einzelnem, das unverkürzt in einem Sinnhorizont gestellt werden soll, und dem Allgemeinen, das seinen totalen Sinnanspruch den individuellen Modifikationen des zu Subsumierenden nicht aufzuopfern vermag: Dies ist die Situation aus der heraus Lichtenberg seine Aphorismen schreibt (freilich ohne dezidiertes Bewusstsein, dass seine zwischen symbolischer Aussage und Systemutopie angesiedelten Kurztexte die notwendig aus diesem Konflikt entspringende Sprachform darstellen).


 Das Denken auf der Grenze

Detailgenauigkeit und resümierende Überschau als zwei Erkenntnisverfahren stehen nicht in einem Verhältnis des traditionellen Aufsteigens von der Einzelbeobachtung zum generalisierenden Begriff oder des Herabsteigens von der Idee zum konkreten Gegenstand. Vielmehr unterliegen sie dem Prinzip wiederholter Umkehrung. Einseitige Denk- und Gefühlslagen korrigieren sich gegenseitig in der Umkehrung, so dass sich der Beobachtende abwechslungsweise in verschiedenen Extremsituationen begibt, wodurch sich Prävalenzen gefühlsbestimmter oder rationaler Art wieder relativieren. Das läuft letztlich auf das In- und Gegeneinanderwirken von Beobachtung und Phantasie hinaus, also einer Unmittelbarkeit einerseits und einem entschiedenen Willen zur Distanz andererseits. Hier taucht schliesslich auch zum ersten mal dieses rätselhafte Er auf, das bis zu Kafka hin zu einem Vermittlungsglied zwischen Selbstbezug und moralistischer Aussage, zwischen unverwechselbarem Privatem und distanziert Objektivem zu einem sprachlichen Grenzland zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft werden sollte: Jener prägnante Augenblick, in dem Beobachtung eines noch nicht dingfesten Gedankens einsetzt. Streng rationales Vorgehen und spielerisches Sich-Gehenlassen, planvolle Konstruktion und planloses Phantasieren erweisen sich als Pole ein- und desselben Spannungsfeldes. Es handelt sich dabei um jenen dunklen Punkt, jene „wolkige Stelle“, die den Übergang des Sinnlich-Erfahrenen ins Rational-Begriffliche bezeichnet und um den unausgesprochen alle aphoristischen Verstehensentwürfe kreisen. Sie gewinnen durch jenes Spannungsfeld zwischen Phantasie und präziser Begrifflichkeit eine Nähe zum Traum und der Traumdeutung Freuds: der notwendige Verschränkung von Überlegung und Phantasie, von genauer Beobachtung und Willkür von strenger Identifikation mit dem Objekt und spielerischer Distanz zu ihm. Licht und Finsternis, Rationales und Irrationales erscheinen Lichtenberg nicht als schroffe Gegensätze, sondern als höchst relatives Gegensatzpaar in einem stets sich erneuernden Denk- und Erfahrungsprozess eines (abzuschätzenden) Gegen- und Miteinanderwirken extremer Möglichkeiten. Dies lässt sich beispielsweise am Funktionieren eines Witzes verdeutlichen: Zwei Denkordnungen treten in ihm in einen Konfliktzusammenhang: das freie sich den zufällen anvertrauende Spiel des Witzes und der Regelrahmen des Verstandes. Erst aus diesem Zusammenspiel (eines In- und Gegeneinander) ergeben sich Erkenntnisse ersten Ranges. Denn nirgends vergegenwärtigt sich solches Mit- und Gegeneinander von Zufall und Regelrahmen von unberechenbaren und rationalisierbaren Elementen so rein wie im Spiel. Und so wird denn der Spiel-Begriff auch übertragen auf andere Zusammenhänge, in denen es auf das In- und Gegeneinanderwirken von Intuition und Ratio, von Gefühls- und Denkordnungen ankommt. Lichtenbergs Metapher vom Mensch als Buch gewinnt in diesem Zusammenhang letztlich ebenfalls seinen besonderen Reiz. Durch den Doppelvorgang, dass der Mensch nicht nur ein Buch ist, das sich selber liest, sondern auch ein Buch, das sich selber schreibt, kommt das Doppelwesen Mensch als Sich-Begreifendes und Sich-Gestaltendes, als Reflektierendes und Situierendes ins Spiel.


Revolution und Subversion

Und so geht es in dem hier verfolgten Zusammenhang dann gerade um die Entlarvung und Demaskierung in der Form von subversiven und revolutionären Energien. Dahingehend können Aphorismen und die sich über sie entfaltenden Prozesse gebündelt werden – selbstverständlich nicht ohne sich wieder in ihrer Mehrdimensionalität aufzufächern. Denken und Fühlen als ein Spannungsfeld menschlichen Erkennens erscheinen nicht bloss als Bedingung der Möglichkeit menschlichen Verstehens ganz allgemein, sondern auch als Bedingung und Voraussetzung jeglicher Analyse auch und gerade im Sinne politischer Aktivität. Ausnahmen werden, eben gerade weil sie aus den bestehenden Regelsystemen herausfallen, zu Fermenten des Erkennens und des Handelns: zu Gegenordnungen, die zu Entwürfen neuer Ordnungen führen. Fortgesetzte Umkehrungen, solches Springen aus einer Ordnung in die entgegengesetzte, erweist sich denn auch als das entscheidende Merkmal. Ein Aphorismus entsteht auf der Grenze einer aus dem Erkenntniszusammenhang als ungenügend empfundenen Ordnung mit dem Blick auf die Gegenordnung und ihren Erkenntniswert.

Erkenntnis als Prozess

Verstehen gewinnt also entscheidenden Prozesscharakter: es bedingt Veränderung und ein Heraustreten aus den bestehenden Denk-Ordnungen – als stets erneuerte Auseinandersetzung als ein Vergleichen von Fakten und Begriffen, als ein probeweises Erweitern vom Einzelnen aufs Allgemeine, ein Reduzieren vom Allgemeinen aufs Einzelne, als ein Fortgesetztes Umkehren, Ablenken und Interpolieren. Indem der Aphorismus als ein scheinbar begrenzter Text , sich auf der Grenze von Situation und Reflexion begreift, erzwingt er in doppelter Weise die Strukturierung dieses Konflikts. So können sie als lebendiges Bindeglied und Interpolations-Organ zwischen Einzelnem und Allgemeinem fungieren: zwischen Erfahrungs- und Denkzusammenhang und der Übersteigung dieses Denkzusammenhangs auf eine Diagnose der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten hin, der diesen Konflikt gerade transzendiert, übersteigt und neu beleuchten kann. Der im Aphorismus selbst angelegte Umschlagcharakter – im Sinne eines entdeckenden Erkennens – wird besdonders deutlich darin, dass sie selten oder nie ein entschiedenes Ja oder Nein auf eine Frage des Lesers bereithalten, dass in ihnen der die Logik leitende Satz des Widerspruchs als der jede eigentliche Erkenntnis verstellende erscheint. Ein Hin- und Hergleiten des Gedankens, Kombinatorik, bestimmte Fragestrukturen leiten denn auch seine differenzierenden Formen und Ausprägungen – so zum Beispiel Parodien und Umkehrungen des formal-logischen Schlussverfahrens, Antithesen und Parallelismen, Scheindefinitionen, Steigerungen, Paradoxe, Sprünge und Ellipsen. Indem dem Aphorismus zugleich gelingt, was anderen Texten nur einzeln gewährt bleibt, nämlich die Rationalisierung des symbolischen Verfahrens und die Emotionalisierung des rationalen Verfahrens, bleibt er nach beiden Seiten geöffnet. Symbolische Verformelung und Systemutopie begegnen sich in ihm, kommen in ihm zum Austragen – halten sich gegenseitig lebendig und können so füreinander fruchtbar werden.


Literatur zum Thema:

Gerhard Neumann. Ideenparadiese: Aphoristik bei Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. Wilhelm Fink Verlag. 1976.

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