Literatur und Philosophie
Wenn man Kafka liest, wird man den Eindruck nicht los, dass den Sinnverschleifungen des Textes ein ganz starkes und ihnen eigenes Moment innewohnt – dass in ihnen eine Kraft liegt, die als Zeichenwelt paradoxerweise etwas letzlich unfassbares zeigt oder besser vorführt, indem es das Fassbare aufsprengt, dessen Horizont übersteigt und in seinem ständigen Entzug erst sich zu zeigen beginnt. Und so lässt sich im Zusammenhang mit Philosophie und Kultur, welche hier beide als ein Zeichenprozess aufgefasst werden, auf die Literatur Franz Kafkas abheben.
Christoph Schmassmann
Es wird hier der Fokus auf einen ganz bestimmten Ansatz gelegt, um die subversive wie hoch revolutionäre Tendenz in Kafkas Texten zu unterstreichen. Es gilt sich zunächst zu vergegenwärtigen, dass sich zu jedem herrschenden Diskurs Gegenströmungen ausbilden, die neue Impulse setzen und das System der Literatur und Kultur verschieben. Kafkas Texte können in diesem Sinne eine herausragende Rolle spielen, wenn man sie in ihrer Zuordbarkeit letztlich entzieht und sie frei liest und sich entfalten lässt, was sich in den Potenzierungen der möglichen Sinnzuschreibungen immer wieder zu entziehen scheint.
„Für eine kleine Literatur“
Gilles Deleuze und Félix Guattari beziehen sich auf die revolutionären Bedingungen einer jeden Literatur, welche sich innerhalb eines (von Macht gesättigten) Diskurses eine eigene Sprache verschafft. Das Problem, das sich ihr stellt, ist Folgendes:
„Das Problem einer kleinen Literatur, aber auch unser aller Problem: wie kann man der eigenen Sprache eine Literatur abzwingen, die fähig ist, die Sprache auszugraben und sie freizusetzen auf einer nüchtern-revolutionären Linie? Wie wird man in der eigenen Sprache Nomade, Fremder, Zigeuner?“
Und Sie bringen es noch in einem anderen wesentlichen Ansatz auf den Punkt, wenn sie schreiben, dass das Verlangen an sich nicht Form ist, sondern unbegrenzter Fortgang, ein Prozess mit dem Ziel ein molekulares Tanzen und Toben zu entfesseln eine Welt aus reinen Intensitäten zu finden, in der alle Formen sich auflösen, um lediglich amorphe, vielgestaltige und in ihrer Form ungeformte Materie, deterritorialisierte Ströme, asignifikante Zeichen (die an und für sich keine Zeichen mehr – oder wenn man so will reine Zeichen sind) übrig zu lassen.
Deterritorialisierungen
Der Ausdruck der „De-Territorialisierung“ ist interessant und in diesem Sinne zentral, als dass sich in ihm das „Gegen“ artikuliert, dass sich dem Akt der Machtausübung und der Unterwerfung (der „Territorialisierung“) nicht fügt und sich ihm gewissermassen entzieht. Das, was von einer unterworfenen, entstellten und verkümmerten (aber in dieser Form gerade reinen) Sprache übrig bleibt, nehmen, wie es ist, und es in seiner subversiven Energie verwenden gegen den Ausdruck der Macht, zum Schlag ausholen mit dem einzigen, was bleibt: dem Willen zum Widerstand (oder besser dem Widersetzen – der Setzung entgegen dem Zwang und der Unterwerfung). Es ist das Aufbäumen in der Schlinge, welches diese in einem Akt des Widerstands, der Widersetzung nicht sprengt, aber in einer unsichtbaren Volte gegen diese selbst kehrt.
„ Sie (die Sprache) immer weiter vorantreiben, bis zu einer Deterritorialisierung, die nicht mehr durch die Kultur oder den Mythos kompensiert wird, die endlich, wie langwierig, zäh und dickflüssig der Prozess auch immer sein mag, zur absoluten Deterritiorialisierung wird. Die Sprache langsam schrittweise in die Wüste führen. Die Syntax zum Schreien benutzen, dem Schrei eine Syntax geben.“
Gilles Deleuze und Félix Guattari erfassen denn auch etwas ganz wesentliches, wenn sie schreiben, dass man in der eigenen Sprache wie ein Fremder Leben muss, die Automatismen der sich in das Unbewusste fortsetzenden Ströme kappen um sie in ihrer Reinheit gebrauchen zu können. Die Sprache nicht durchdringen in ihre Signifikate und offenen Bedeutungen, sondern in ihrer reinen Signifkanz, in ihrer Oberflächenstruktur das zum Klingen bringen, was in ihr angelegt ist, auf dass die Ströme (und Kraftlinien wie Derrida es nennt) freigesetzt werden und in ihrer Mannigfaltigkeit „disseminieren“.
Explikation und Auffältelung
Kafka zeigt unter anderem in seinem Text „Vor dem Gesetz“, der mit dem ständigen Aufschub spielt und diesen in seine letzte Konsequenz denkt und überführt, etwas auf, das sich stets nur in einem eigentlichen Nicht-Stattfinden (ab-)zeichnet, sich in seinem Zeigen und Verweisen in ständigem Entzug befindet – und mitunter als Mechanismus erst dadurch gewahr werden kann. Eine prinzipiell unendliche Verweisungsstruktur eröffnet sich in jenem Prozess von sich in stets neuen Auffältelungen entfaltenden Bezügen: Das kafkaeske Moment einer jeden Setzung offenbart sich somit in einer Auflösung dessen, auf was eine jede Setzung selbst fusst: das Draussen „Vor dem Gesetz“ und das Drinnen lösen sich auf in einen steten aber unhintergehbaren Zwischenzustand, der sich letztlich nur als polymorphe Moment-Aufnahme und (Wieder-) Aufgabe zugunsten einer reinen, absoluten Schöpfung vollzieht. Und so gerät die Schrift, gesetzt als Text, in Bewegung.
Differenz …
Gerade dies hat nun letztlich direkte und ganz entscheidende Implikationen für den hier verfolgten Zugang zu Kultur(en): es kann gerade Differenz nicht mehr als von aussen her gezogen betrachtet werden, sondern nurmehr als vom Subjekt in sich selbst gesetzt; gerade das, was man als das andere und als Differenz wahrzunehmen pflegt, ist nicht etwas, was sich ausserhalb konstituiert oder verortbar wird, sondern sich erst innerhalb des Subjekts herzustellen beginnt. Kafka lesen als das revolutionäre Potential, das sich in und über den Text hinaus entfaltet: und mit einem male sind die Grenzen zwischen Innen und Aussen von kleinen, aber steten Erschütterungen gekennzeichnet, werden fliessend und es findet sich in dieser Öffnung gerade das eine und letztlich zentrale Konzept verwirklicht, die Kultur(en) in Bewegung zu versetzen. Und somit artikuliert sich letztlich in der Selbstaufgabe und dem Verlöschen, das zu der Struktur dieses Mechanismus gehört, letztlich der Zugang zu dem Spiel der Kulturen – wobei sich ein Zwischenzustand etabliert, sich kunstvoll in der Schwebe hält und in einer prinzipiellen Öffnung über sich selber hinausweist.
… und Kontingenz
Somit muss im Prinzip jedes (geschichtlich gewordene und in seiner Permanenz sich behauptende) kulturelle Gesetz, für das die Verallgemeinerung konstitutiv ist, dahingehend „entmantelt“ werden, als dass es sich als kontingent zeigt und als solches erkannt wird: als Möglichkeit selbst zwar wirklich, aber eben als solche nur mögliche Wirklichkeit. Der Aspekt der Kontigenz erweist sich gleichsam als Schlüssel zu einem Verständnis von Kafkas Texten: der stete Moment des zeigenden sich Entziehens verweist letztlich auf das einzige in diesem Sinne in Permanenz sich gebende Gesetz: kontingente Bewegung von Kultur. Zu erfassen in der Dimension seiner letztlich prozessual sich entfaltenden Bedeutungen als eigentliche Lösung (und so vielleicht noch am ehesten als Auflösung in die jeweiligen Bezugssysteme zu entfalten) – ist diese ein in seiner Gesamtheit die Kultur bestimmendes letztlich rhizomatisches, in all seinen Facetten spielendes Zeichensystem. Und an diesem Punkt konvergiert Deleuzes und Guattaris Entwurf „Für eine kleine Literatur“ im Sinne der Dekonstruktion mit dem hier verfolgten Ansatz: wenn für sie genau das zum Ausgangspunkt wird, was stets gegen die alte Organisation der Kräfte resistiert hat, was stets den Rest konstituiert hat, irreduzibel auf die herrschende Macht, welche die Hierarchien organisiert. Eine hoch subversive Kraft ist hierbei das zentrale Moment. Am Schluss bleibt als ein steter (Neu-)Anfang die Öffnung hin auf das Feld eines Sinn- und Zeichen-Systems, das sich letztlich über einen ganzen in seiner Vielgestaltigkeit sich entfaltenden und ausdifferenzierenden Kulturraum ausbreitet und verstreut.
Literatur zum Thema:
Gilles Deleuze & Felix Guattari. Kafka. Für eine kleine Literatur. Suhrkamp 1976.
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