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Figuren des Fragmentarischen

Kleines Fraktal zur Ästhetik der Romantik



Als kleiner Selbst-Versuch sei hier aus dem Kabinett der Philosophen der frühromantische Denker Friedrich Schlegel gewählt, um ein paar grundlegende Gedanken zur ästhetischen Idee des Fragments zu entwerfen und neu zu verhandeln.

Herleitung


Christoph Schmassmann


Ein erster Teil stellt hier gewissermassen die Exposition und Vorgeschichte dieses Diskurses dar, der sich um das Fragment und seine jeweilige konzeptuelle Fassung entfaltet. Von der Antike bis hin zum rationalistischen Kunstverständnis in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt es ab der Renaissance unendlich viele Sinnpfade zu verfolgen und zu entschlüsseln bis wir schliesslich dort ankommen, wo sich (paradoxerweise gerade zum letzten Mal in der Geschichte) die Idee der Ganzheit und des Absoluten Geistes dermassen kompromisslos verhandelt und bis in die letzte Konsequenz gedacht werden – in der in ihrer Form beinahe unhintergehbaren rationalen Logik und der Dialektik von Hegels Philosophie. Mit ihr wird die Gestalt eines vollkommenen und organischen Ganzen ins Zentrum des ästhetischen Denkens gerückt.

Diese konterkariert jedoch in ihrer Idee von Integration und Synthese die historischen Verhältnisse seiner Zeit von Dissoziation und Entzweiung. Der Diskurs des Fragments der in der Folge unter anderem mit Friedrich Schlegel einsetzt, ist so in einen Reflexionszusammenhang eingebunden, der diese Idee zwar weiterhin verhandelt, nun aber im Blick auf eine von der Geschichte selbst betroffene, nicht-organische Kunst, die das Ideal des Ganzen und Vollkommenen so nicht mehr erreichen kann bzw. darüber hinausgeht. Dieser Diskurs findet gleichsam im Schatten der Hegel’schen Kunsttheorie statt.

So halten denn auch Schiller wie auch Goethe und mit ihnen Schlegel zunächst noch an der geschichtsimmanenten Realisierbarkeit von ästhetischer Ganzheit fest und versuchen deren Idee anhand des Fragments (das auf dieses zeigt und hinweist) zu vermitteln, was zu Umdispositionen im kunst- und literaturtheoretischen Denken führt. Später wird diese ästhetische Ganzheit mehr und mehr in Frage und schliesslich durch den französischen Poststrukturalismus mit Nietzsche als einem seiner Vorläufer vollkommen wegreduziert bzw. verworfen. Sie wird gewissermassen obsolet. Und gerade dies hatte schon damals bei Friedrich Schlegel letztlich eine Aufwertung der Poesie zufolge (in ihrem entziehenden Zeigen und stets weiter nur noch ästhetischen Gesetzen verpflichteten Verweisenden) konstituiert sich ästhetische Ganzheit erst aufgrund der Künstlichkeit und Abstraktion des sprachlichen Zeichensystems jenseits der nur sinnlichen Sphäre (des Schönen wie Idealen). Diese ist bei den Romantikern immer noch rein geistiger Natur. Doch die Poesie erzeugt gewissermassen ein Bruchstück in Form eines sinnlichen Negativabdrucks des sich nurmehr in der Abstraktion realisierenden absoluten Ganzen. Und so zeichnet sich schon dort die Dekonstruktion des jeweiligen abstrakten Ganzen als einer Illusion ab. Dieses wird zwar noch in Form eines nicht haltbaren Phantasmas verhandelt, büsst aber seine Allgemeingültigkeit auf dem Boden der ästhetisch sich organisierenden Poesie ein – gerade darin folgt Schlegel nicht mehr formal-logischen Ordnungen, sondern Systemen die gerade dem Chaos und der Unordnung entspringen und dort ihre Kraft entfalten und beziehen.


Entwicklungen und Verwicklungen

Das weist wiederum zurück auf die frühromantische Idee des Fragments und macht klar, dass es sich dabei nicht um einen Gegensatz oder eine Schwundstufe der ästhetischen Ganzheitsidee handelt, sondern umgekehrt um deren Steigerungsform – es transzendiert und übersteigt diese gewissermassen. Damit ist ein Weg beschritten, auf dem das organische Ganze (des von den Griechen in der Antike verkörperten Ideals von einem nachahmenswerten Muster in der vollkommenen Abbildung) in ein blosses Durchgangsstadium der ihrer Verwirklichung entgegengehenden Poesie verwandelt wird. In diesem Zusammenhang wird letztlich auch die Idee des Schönen als letztem und alleingültigen Zielpunkt oder Kernaufgabe der Dichtung verabschiedet.

Es geht um mehr – vielmehr ums Ganze, aber qua Fragment, das zu diesem hin erst vermitteln kann. Und so verhält sich auch Friedrich Schlegels Verständnis von Fragment (als eines abstrakten Ideals) komplementär zu seinem Begriff des Fragments (seiner konkreten Materialisation): Gemeinsam bestimmen beide (das abstrakte Verständnis und jeweilige Auffassung sowie der konkrete Begriff davon) in dialektischem Bezug aufeinander die werdende Identität des Kunstwerks und seiner jeweiligen geschichtlichen unmittelbaren Realisation.

Das Fragment entfaltet sich so immer weiter progressiv in ebendiesen Realisationen zukünftiger Möglichkeiten. Fragment (als Teil) schliesst den Begriff des Werkes (als Ganzes) in diesem Sinne nicht nur nicht aus – das Werk ist hier als historisch realisierte Ganzheit zu verstehen – sondern setzt ihn gewissermassen voraus.

Fragment und mit ihm die Entgegensetzung von Poesie (als ästhetischer Praxis) und Wissenschaft (als rationaler Erkenntnis) bilden so das Spannungsfeld, worin gerade das eine durch das andere näher bestimmt wird. Die unendliche Annäherung der Poesie an das Ideal ihrer eigenen Verwirklichung vollzieht sich (nach Schlegel) als ein Prozess einer zunehmenden Verwissenschaftlichung der poetischen Sprache: „Je mehr die Poesie Wissenschaft ist, desto mehr wird sie erst Kunst.“ Theorie und Abstraktion – der philosophische Gedanke schlechthin (das im ursprünglichen Sinn nicht poetische) wird so realitätsbildendes Moment der Poesie. Umgekehrt wird diese, wo sie sich diesem Ideal annähert auch zum Träger von Erkenntnis in der ästhetischen Abstraktion – oder muss man schreiben in seiner jeweiligen ästhetischen Konkretisierung?


Erkenntnis bei Schlegel

Nirgends wird so unermüdlich differenziert, definiert, abgehoben und entgegengesetzt wie bei Friedrich Schlegel. Doch scheinen all diese logischen Operationen gerade darauf angelegt zu sein, das Verstehen zu erschweren, jede Fixierung des Gedankens zu verhindern, geläufige Denkbahnen zu vernebeln. Schlegels „Begriffe“ lassen sich weder eindeutig abgrenzen noch unwiderruflich auf einen Gegenstand fixieren. Er bewegt sich mehr tastend als bestimmend. Durch die „Parodie“ streng logischen Vorgehens sprengt er die Gesetze des formalen Denkens auf.

Schlegels Denkoperationen erweisen sich als nicht als Klärung, sondern als Komplizierung des in Frage stehenden Sachverhalts: seine Konklusionen erweisen sich als experimentelle Spannungskonstruktionen als Übersetzungen in andere Vorstellungsbereiche, als paradoxe Verklammerungen. Dies geht einher mit einer Öffnung des Bedeutungsspielraumes seiner Begriffe und eine logische Umkehrung vollzieht sich: erst durch ihre mehrfache und paradoxe Verwendung und Einbettung können erst immer neue Konstellationen der Begriffe sich entfalten. Diese folgen in der Bewegung innerhalb eines Spannungsfeldes von Paradoxien und Widersprüchlichkeiten anderen Gesetzmässigkeiten. Die Aufgabe des Rezipienten bleibt es das scheinbar hermetisch Abgeschlossene erneut zu öffnen und in kombinatorische Bewegung zu versetzen. An die Stelle einfacher logischer Operationen tritt die zunehmende Komplizierung als einer subversiven Geste wider den Systemzwang. An die Stelle unmittelbar abstrahierender Subsumption des Einzelnen unter ein unwiderrufliches Gesetz tritt eine unendliche Folge von Graduationen, Abstufungen und Verwicklungen, die sich jeglicher Systematik entziehen. Vielheit und multiple Sinn-Subsysteme treten an die Stelle einer einheitlichen Ganzheit und anstelle eine rationalen Logik eröffnet sich der Raum des Irrationalen und Irrealen.

Die Idee der sich komplementarisierenden unendlichen Fülle und unendlichen Einheit gewinnt so neue Kraft und entwickelt sich zum Dreh- wie Angelpunkt nicht nur des (früh-)romantischen Denkens. Erwähnen wir Friedrich Nietzsche, Jacques Derrida oder auch die nordamerikanische Spielart der Dekonstruktion um Paul de Man, worin sich diese Idee weiter fortsetzt und entsprechend radikalisiert. Und ja sie alle waren im Grunde einer Ästhetik der Romantik in dem hier entwickelten Sinne verpflichtet.

Und so bedeuten denn auch die Grundsätze der formalen Logik für Schlegel nicht die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, sondern deren Grenzen – genauer nur deren eine Hälfte. Indem Schlegel experimentell diese Grundsätze umkehrt, die Unbegründbarkeit und Paradoxie zu höheren Axiomen der Erkenntnis macht, eröffnet er eine neue Dimension des Verstehens. Er bezieht die unauflösliche Dialektik, die allem Erkennen innewohnt, erneut auf die Spannung von Einzelnem und Ganzem, von atomischem Partikel und allumfassender Idee und so wird auch gerade der Wechselbezug des „Endlichen“ (als seiner jeweiligen geschichtlichen Realisation) und des „Unendlichen“ (seiner potentiell unendlichen Ausdifferenzierung in der Zeit) zum zentralen Moment der Philosophie der frühromantischen Fragments.


Dekonstruktive Hermeneutik

Doch greifen wir nicht vor. In dieser Form einer destruktiven und negativen Hermeneutik liegt letztlich die Form der Erkenntnis als deutende Vermittlung von Einzelnem und Ganzem verborgen und in einem Spannungszusammenhang, der im weiteren Verlauf noch von Bedeutung sein wird. Erkenntnis verdeutlicht sich als der Spannungsbogen zwischen einem setzenden und einem suchenden Ich, einem reflektierenden, denkenden und bildenden Bewusstsein hier, einem freien sich in die Zukunft und ins Vergangene entwerfenden und entfaltenden Bewusstseins dort. Es erschafft und nimmt seine Realität gleichzeitig wahr – und das in diesem Sinne und sei hier akzentuiert: im selben Vollzug. Das sich entziehende Zeigen, wie es sich später als ein Moment der dekonstruktivistisch organisierten Lektüre erweisen soll gelangt so zu einer ersten Annäherung eines sich enthüllenden wie gleichzeitig sich verbergenden Zeichenprozesses.

Das Ich bewahrt sich so immer die Beweglichkeit, Veränderbarkeit, innere Widersprüchlichkeit und Vielbezüglichkeit seines Gegenstandes. Es wird so erst zu einem lebenden Organismus zwischen den Polen von Einzelnem und Ganzem ohne die unhintergahbare Kluft zu verwischen. In ständigem Oszillieren findet dieser Prozess im Interpolieren zwischen den stets wechselnden Brüchen und Verweisen seinen Ausdruck. Jegliche Definition bleibt so Formexperiment als Eindruck eines aller starren Systematik ausweichenden Denkens, das dieses gleichermassen unterläuft und aushebelt.

Für den Rezipienten bleibt es so ein Denkanstoss, der zum Widerspruch reizt und ihn so konstruktiv herausfordert. Wahrheit erscheint nicht als Fixierungsprozess, sondern als Dialektik von „Trivialität“ einer fassbaren Reduktion auf das Konkrete und seiner gleichzeitig „unauflöslichen Paradoxie“ in seiner ganzen Komplexität. Als Dreh- und Angelpunkt bleibt letztlich der jeweilige Rezipient übrig. Das Fragment wird so zum Konfliktzentrum als Austragungsort der beiden entgegengesetzten, aufeinander bezogenen Ordnungsformen des Denkens: des thetischen noch gerichteten Denkkeims im Fragment auf der einen, des differenzierten Denkzusammenhang auf der Seite des Lesers oder Betrachters. Dies hat den Konflikt von einander entgegengesetzten Ordnungsformen zugrunde. Ein Pulsieren zwischen unendlichen Details und übergreifendem Ganzen bleibt die Folge.

Dies ist dann auch der Grund zur Konstruktion des Fragments als Denkform: eine zwanglos nicht überbrückbare Kluft zwischen dem empirisch einzelnen (als dem Originären) und dem abstrakten Ganzen (worin es sich entfaltet) in der Notwendigkeit eines Sprungs oder Bruchs. Dieser Konflikt verbleibt als Spannungsfeld und Grundkonflikt jeder Erkenntnisoperation bestehen – wie er später in der Différance von Jacques Derrida und seinem Konzept der Itération dargelegt werden sollte oder auch im Denken von Gilles Deleuze seine weitere Ausdifferenzierung entfaltet hat.


Mythologie und Mythos des Ich

Eine Dialektik von Chaos und System setzt ein. Die Denkform des Paradoxes erscheint als die dem stets pulsierenden Wechsel zwischen beiden Orndungsformen angemessene und hat ein ganz spezifisches Erkenntnismodell zur Folge. Dieses prägt sich auf doppelte Weise aus: zum einen im Entwurf eines Ichs das sich um Erkenntnis bemüht, zum anderen in einer Ausdrucksform die diesem Erkenntnismodell entspricht: dem Fragment.

Die Mythologie gewinnt denn auch als Begriff für Schlegel zunehmend an Bedeutung als ein Gegenpol zum starren System – damit nimmt er gewisse Implikationen der Freudschen Psychoanalyse vorweg und entwirft ein Modell eines neuen Erkenntniszusammenhangs. Die Mythologie wird so zum Ausdruck einer umgebenden und aus ihr schöpfenden Kultur: Denkbares und Undenkbares vereinigen sich in ihr zu einem Verstehenszusammenhang und beginnen sich darüber stets neu zu organisieren. So geht es letztlich um ein Dechiffrieren des in den Hieroglyphen der Welt Verborgenen. Ein Berühren im Sinne einer Verknüpfung, die nicht nach den Grundsätzen des formal-logischen erfolgt, sondern nach denen der Analogie und deren Verschiebung und Verdichtung sowie der Antithese und der Entgegensetzung. Und so avanciert die Mythologie bei Schlegel zum Modell einer alles (Sinnliches und Geistiges, Einzelnes und Ganzes, Fragment und System) vereinigenden Denkform.

Das Ich wird so zum Austragungsort widersprechender Ordnungsformen als einzig mögliche Bedingung von Erkenntnis. Ein Ich als notwendiges Paradox zwischen Ganzheit und multiplen stets wechselnden Sinnsystemen und das Fragment als Ausdruckszentrum dieses Erkenntniskonflikts. Variable Verknüpfung des Starren und des Beweglichen, des Struktiven und des Wandelbaren. Diese tritt als Denkform an die Stelle der formal-logischen Denkgesetze und entfaltet sich zwischen Beweglichkeit und Starre. Eine negative Dialektik von System und chaotischer Einzelheit und ihre Aufhebung im organischen Zusammenhang setzt letztlich ein.


Schlüsse

Was letztlich zu konstatieren bleibt: das was sich als Kern der Erkenntnis erweist, kann nicht erkannt werden. Es bleibt der unhintergehbare blinde Fleck einer jeden objektiven Erkenntnisoperation, das letztlich erkennende subjektive Ich. Wenn man sich den sich entziehenden stets neu sich ausdifferenzierenden Zeichenprozess, für den dieses Ich steht, einmal vergegenwärtigt, bleiben nur Relativität, Pluralität und unendliche Relationen, Bezüge und multiple Perspektiven übrig. Man mag sich wundern und einwenden, dass immerhin der sich bewusste Teil des Ichs den anderen zu erkennen vermag und so Bewusstsein und Unbewusstes in einen Dialog treten können: Doch gerade dort rutscht das Bewusstsein oder bewusste Sein ab und versinkt in den Bereich einer vor- wie unbewussten Seinsweise, welche sich nicht artikulieren lässt. Diese irreduziblen Reste eines Ichs spiegeln sich vielleicht in der irrationalen Bewegung von Traumsequenzen wieder – lassen sich aber so niemals einfangen oder fixieren.

Dieses Ich verbleibt in einem fragmentarischen und fragmentarisierenden Prozess des Bewusstsein, das sich seiner selbst zwar gegenwärtig bleibt doch niemals habhaft werden kann. Es lässt sich nicht fixieren noch bestimmen – lediglich an- bzw. umschreiben, andeuten aber nicht per se deuten: erlebbar zwar hier und jetzt aber jeglicher logisch-abstrakten Fixierung zuwiderlaufend. Schlegel hat es so ausgedrückt: „Ich bin ein fragmentarischer Systematiker“. Paradox genug verweist er damit auf das organisierende Moment seiner letztlich poetischen Philosophie in Fragmenten, dessen Einheit sich in Bruchstücken erst realisieren kann. Auf der anderen Seite wird erst dadurch im Aufbrechen und Zersplitterung des Ganzen in seine Teile die Erkenntnis ebendieses Ganzen überhaupt möglich – wenn auch nicht darstellbar so doch zumindest erlebbar in der Vermittlung durch das Fragment.


Literatur zum Thema

  • Ostermann. Das Fragment. 1991

  • Neumann. Ideenparadiese. 1976

  • Bohrer. Die Kritik der Romantik. 1989


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