Richard Sennetts „Civitas – Die Gross-Stadt und die Kultur des Unterschieds“
Ich werfe meinen Blick über die Stadt und erkenne ihre Formen und Strukturen – was sehe ich aber genau in den Strassen, zwischen den Häusern und auf den Plätzen, wo das Leben pulsiert und sich in immer neuen Ausformungen artikuliert? Die These des Kulturphilosophen und Soziologen Richard Sennetts ist es, dass sich in der Formensprache und den Arrangements – dem Stadtbild quasi als eine sensible und dennoch expressive Draperie – auch und gerade die Beschaffenheit einer Gesellschaft zu spiegeln beginnt. Gleichzeitig werden Prozesse und Entwicklungen, neue Trends und übergreifende Tendenzen ablesbar.
Christoph Schmassmann
„In einer Stadt mit ihrer inneren und äusseren Ordnung spiegeln sich das Zeitalter, der soziale Wandel und das Gedächtnis einer Gesellschaft“ und so wird die „soziale, architektonische und existentielle Formensprache“ darauf hin befrag- und lesbar. Die These Richard Sennetts, dass gerade die moderne Architektur „in ihrer Form nichts von der Komplexität möglichen Lebens“ in ihr verrät, wird hierbei für das folgende Gedankenexperiment leitend.
Aussen- und Innenräume
Es ist hilfreich, sich zunächst zu vergegenwärtigen, dass Aussen- bzw. Innenräume und die Grenzziehungen zwischen diesen eine an sich willkürliche Setzung darstellen – die aber zur genaueren Betrachtung des Themas hilfreich sein wird. So verschränkt sich quasi in einem ersten Schritt die Innensicht des Betrachters mit dem Aussenraum, wenn man in einem nächsten Schritt gewissermassen annimmt, dass sich dieser einerseits als einen Teil dieses Ganzen und dieses wiederum als einen Teil von sich selbst begreift. Wir erschaffen und nehmen in diesem Sinne unsere Wirklichkeit gleichzeitig wahr – und unser Verstand macht das so gut, dass wir nicht einmal merken, dass es passiert.
So scheint es dann auch plausibel, dass Sennett folgende Beobachtung macht: „Aus dem was einmal Erfahrung öffentlicher Räume war, sind heute – so scheint es – schwebende Vorgänge in der Psyche geworden.“ In diesen Prozess schleicht sich – gewissermassen bei der Formung der Natur zu Kultur – eine Aneignung und Besetzung der Aussenwelt durch das Subjekt ein, die sich nun ihrerseits zurückprojiziieren lässt; diese mitprägt und ihr quasi ihr Spiegelbild hinwirft, in dem es sich selbst reflektiert. Das Innen- kondensiert und sedimentiert sich im Aussenverhältnis, schlägt sich darin nieder und beeinflusst dieses nun in seiner Form zurück.
Neutralisierung der Stadt
So ist es dann auch kein Zufall, dass die Menschen eine weitgehende und immer stärker um sich greifende Neutralisierung ihres Umfelds und ihrem Lebensraumes hinnehmen. „Im Grunde genommen gibt es eine elementare beinahe schon „spirituelle“ Ursache dafür, dass die Menschen bereit sind, ein dermassen nichtssagenden Schauplatz für ihr Dasein hinzunehmen (…) Im Erscheinungsbild der Städte spiegelt sich eine mächtige, weitgehend unbeachtete Angst davor sich preiszugeben.“ Bei Sennett werden letztlich die Ursachen und Wirkungsmächte aufgezeigt – wie die Mauer zwischen Innerlichkeit und Aussenwelt errichtet wurde. Scham und Schuld als zentrale Faktoren, die unser Verhaltensweisen regulieren, werden somit deutbar als ein wichtiger Motor hinter dieser Entwicklung. Eine der Konsequenzen und Tendenzen, die auch bei Sennett ablesbar wird: Gleichschaltung und Uniformierung, Einebnung des Individuellen quasi zugunsten einer kollektiven Vereinheitlichung und eines in sich stabilen Gleichgewichts.
Am Beispiel sakraler Räume lässt sich beispielsweise eines sehr schön zeigen. Wie Sennett dies tut, muss man hier wahrscheinlich am besten bei der Wiege der westlich-geprägten Kultur ansetzen. „Die alten Griechen konnten die Komplexität des Lebens mit den Augen sehen.“ Und wenn man sich deren Tempelanlagen vergegenwärtigt, zeigt sich doch das eine sehr deutlich, dass gerade hier Aussen- und Innenräume quasi nicht streng voneinander geschieden sind. Durch diese Öffnung des Aussen- gegen den Innenraum und fluktuierende Grenzen geht quasi das eine ins andere über. Macht man den Sprung ins christliche Zeitalter, steht man vor monumentalen sakralen Bauten, die beim Betreten sich auch im Verhalten, in damit verbundenen Verboten und Tabus niederzuschlagen beginnen. Scham und Schuld treten hier auf als Dispositive, die gerade geschürt und in ihrer Form noch bekräftigt werden.
Der Blick in den Spiegel
Soweit lässt sich also ein guter Bogen zu unserer Gesellschaft schlagen, wenn man fragt, was denn in unserer postsäkularen Zivilisation die Gebäude sind, in die sich die Autorität der unseren heutigen Kultur kleidet? Wie begegnet mir der Aussenraum in der Stadt, welche Gebäude ziehen mich in ihren Bann, verlocken einen beim Gang durch ein (post-)modernes Stadtbild? Ich sehe mich selbst zunächst an allen Ecken gespiegelt. Ein Einblick in einen ganz zentralen Aspekt lässt sich gewinnen, wenn ich mich in der Aussenwelt genau betrachte. Was vermittelt wird, ist ein Aussenraum der quasi in sich selber projiziert und so in doppelter Weise zurückgeworfen wirkt – die Illusion eines in sich isolierten Ganzen und Einheitlichen wird gestärkt und noch unterstrichen.
Das wirft schliesslich zweierlei Fragen auf: Die Festschreibung von fixen Grenzen zwischen Innen und Aussen dient der Stabilisierung des Selbst und ist in umgekehrter Weise gleichzeitig Bedingung für ein in sich geschlossenes Ich. Wenn allerdings die Grenzen zwischen Innen und Aussen tatsächlich festgeschrieben, mitunter untrennbar und nicht ständigen Verschiebungen ausgesetzt wären, kann auch keine Veränderung stattfinden. Denn wir erleben – wie beispielsweise Lacan im Anschluss an Sigmund Freud gezeigt hat – im Spiegelstadium zunächst die Grenzen zwischen Innen und Aussen als fliessend, mitunter als beweglich und veränderbar, bevor wir uns als ein in sich geschlossenes Ganzes wahrnehmen. Und so verewigt sich beim Blick in den Spiegel gerade nicht die Einheit des Ich, sondern die sich ständig verändernden und sich verschiebenden Grenzziehungen zwischen Innen- und Aussenwelt. So sind wir mit einem mal gezwungen, gerade Differenz und Andersartigkeit in uns selbst zu suchen und zu situieren, anstatt diese in unser Aussenverhältnis zu projizieren und der stete Prozess der sich in sich selbst verschränkten und sich immer wieder neu verschiebenden Grenzziehungen beginnt einzusetzen.
„Wir sollten Unterschiede auf den Strassen und bei anderen Menschen weder als Bedrohung noch als sentimentale Verlockung wahrnehmen, sondern als notwendige Visionen verstehen. Notwendig sind sie für uns, wenn wir – individuell und kollektiv – lernen wollen im Gleichgewicht zu leben.“ Die Unterschiede liegen gerade in uns selbst und dort sind diese letztlich auch zu suchen – dort kann man ansetzen! Was nur zugunsten einer Wahrnehmung bzw. Wahrung einer Innerlichkeit funktioniert, die sich nicht preisgeben will, kann und muss – eine einheitliche Setzung des Ichs nämlich, wie sie in der obigen Weise gezeichnet wird – ist nur möglich zugunsten einer absoluten Setzung, die alles, was ihr nicht entspricht – sie mitunter in ihrer Integrität bedroht und gefährdet – ausblendet, anstatt darauf zuzugehen, sich ihm zu öffnen und sich und das Andersartige als jeweils ineinander verschränkten Teil von sich selbst und der gemeinsamen Welt zu begreifen. Und so liest sich denn Sennetts Studie als ein wunderbares Plädoyer für eine gross-städtische Vielfalt und eine Kultur des offenen Blicks, das uns dazu anhält, uns selbst und unseren Lebensraum stetig zu hinterfragen und das eine auf das andere beziehbar zu machen.
Literatur zum Thema:
Richard Sennett. Civitas – die Gross-Stadt und die Kultur des Unterschieds. Berliner Taschenbuch Verlag. 2009.
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