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Roland Barthes – Die Lust am Text

Lesen als Ereignis des Textes




Jeder kennt den Moment, wenn Lesen mit einem Mal in einem lustvollen Akt aufgeht und man sich plötzlich ganz und gar in dem durch die Sprache erzeugten „Film“ befindet. Lust und Lesen sind in dieser Weise beinahe untrennbar miteinander verknüpft – während wir auf der anderen Seite diese Erfahrung zu einem rein geistigen Prozess stilisieren. Für Roland Barthes jedoch geht ein Text niemals in seinem abstrakten Sinn auf, sondern er revolutioniert und radikalisiert den herkömmlichen und uns geläufigen Textbegriff dahingehend, als dass der Leser wie die Textur als konkreter Textkörper sich gegenseitig im Akt des Lesens in einer Form der ekstatischen Erfahrung durchdringen und so selbst entgrenzen, transzendieren und übersteigen.


Aufbruch des Ungewissen

Der Lesende, der Schreibende wie der Liebende sind so gesehen die idealen Protagonisten aller Schrift und der Literatur, nicht nur weil alle drei jeweils obsessiv um Zeichen, ein gegenseitiges Zeigen und Sich-Entziehen, ein mögliches Verstehen und stets wechselnde Sinnfindungsprozesse kreisen, sondern weil sie darüber hinaus etwas vorführen, was erst in einer konkreten Sinnlichkeit über den Körper Sinn zu stiften beginnt. Unter diesen Voraussetzungen wird Schreiben und Lesen nicht zum Nachvollziehen vorgängiger Gedanken und Aussagen, sondern zu einem offenen und affektiven Prozess mit ungewissem Ausgang. Wer schreibt oder liest, macht sich zum Schauplatz einer körperlichen Erfahrung. Gleichzeitig exponiert er sich dem Irrtum und der Ungewissheit – einem Nicht-Wissen. Doch dieser Mangel an Sicherheit, wie ihn der Liebende durchlebt, wird wieder aufgewogen durch die Chance, Unerwartetes und Neues – in einer Form des immer auch körperlichen Begehrens – zu entdecken. So öffnet man sich einem Erfahrungsraum, von dem zu Beginn kaum angegeben werden kann, in welche Richtung(en) und über welche Fährten er führen wird. Barthes zeichnet nach, was jeder Text in sich selbst in seiner eigenen obsessiven Dekomposition und Öffnung hin zum Leser quasi vorführt, indem er diesen bis hinein in sein Unbewusstes affiziert. Und so setzt er denn auch den Akt des Lesens, den konkreten Umgang mit Sprache und Texten gleich mit einer nicht vorhersehbaren Faszination und der nicht kontrollierbaren erotischen Anziehung, die sich zwischen zwei Menschen entwickeln kann.

 

Entgrenzung in der Vereinigung

Will man aber einen entgrenzten, von allen Fesseln und Normen befreiten Text, so erfordert dies nicht nur eine Öffnung und Pluralisierung des Sinns in all seinen Dimensionen – seine prinzipielle Unabschliessbarkeit, sondern verlangt auch ein Ablehnen bzw. Unterlaufen der (unter anderem auch sexuell zu verstehenden) Gegensätze wie Aktiv versus Passiv, Männlich versus Weiblich oder Subjekt versus Objekt. So durchbricht Barthes Ästhetik traditionelle Rollenvorstellungen und die Differenzen zwischen den Geschlechtern, indem gerade diese Begriffe und die damit verknüpften Vorstellungen austauschbar werden und sie in diesem Zuge von einem abstrakten Entweder-Oder zu einem konkreten Sowohl-Als-Auch avancieren. Wenn ich lese durchdringe ich einen Text – gleichzeitig vollzieht der Text dasselbe mit dem Leser, der vom Text durchdrungen wird. Dies gipfelt in der Entwicklung eines neuartigen Textbegriffs. Barthes betont nicht nur die konkrete materielle Seite der Schrift als einen der Form nach erotischen Körper, sondern er emanzipiert den Text darüber hinaus zum eigenständigen Subjekt. Wie ich den Text aufwerfe – in ihn eindringe quasi – so durchdringt der Text mich im selben Atemzuge. Barthes lustvolles Lesen spricht Sinnlichkeit und Sinn gleichermassen an, um beide zu potenzieren und zu übersteigen. Ästhetische Erfahrung wird so letztlich immer auch zu einer existentiellen Erfahrung, die alle Wahrnehmungs- Vorstellungs- und Denkbereiche erweitert.

 

Spiel mit den Sinnen

So wird gerade über diesen Begriff von Sprache und die in diesem Sinne ganz konkret sinnliche Lektüre (auch als eine sich durch sie eröffnende Möglichkeit eines Überschreitens und Entgrenzens bestehender Regeln und Normen) die Nähe des Lesens zum Affekt und zur erotischen Anziehung deutlich. Sie rücken in diesem Zusammenhang in die Nähe einer Erfahrung sowohl mystischer als auch sexueller Ekstasen. Und so endet auch das textuelle Verführungsspiel – wie der sexuelle Akt – in einem immer nur unzureichend zu beschreibenden ekstatischen Zustand: in der jouissance durch das jouir en sense(s) – ein Spiel mit den Sinnen und dem Sinn. Der Begriff des Spiels zeigt hierbei keineswegs eine Unverbindlichkeit oder Belanglosigkeit an, geschweige denn Sinnlosigkeit oder pure Kontingenz. Vielmehr verweist es in dieser Hinsicht auf eine gerade dadurch bedingte Sinnfreiheit, seine Entfesselung in der Form von intensiven Wahrnehmungen und Erlebnissen – die in einer Erfahrung gipfeln, wie sie sonst nur die sexuelle Ekstase ermöglicht: ein reines und pures Sich-Aufgeben und Ineinander-Aufgehen in der gegenseitigen Durchdringung des erotischen Aktes.

 

Literatur zum Thema:

Roland Barthes. Die Lust am Text. Suhrkamp Verlag 1974.

 

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