Jean Cocteau mit Foucault lesen – ein Exposé

„ … niemals gab es mehr Machtzentren, niemals mehr Berührungs- und Verbindungskreise, an denen sich die Intensität der Lüste und die Beharrlichkeit der Mächte entzünden, um weiter auszustrahlen.“ Dieser Auszug aus Foucaults erstem Band von „Sexualität und Wahrheit – Der Wille zum Wissen“ stellt sich die Frage nach dem Zusammenspiel von Macht und Autorität mit den Sphären der Lust und des Sexus. Als Folie soll der Fragekomplex auf die Erzählung „Die Kinder der Nacht“ von Jean Cocteau gelegt werden: wie spielen Mächte der Autorität und der anarchischen Energien aus der Erzählung zusammen und gegeneinander an in einer Dynamik, die einen Sog erzeugt, der alles mit sich in sein Vergessen reisst.
Christoph Schmassmann
Die Protagonisten der Erzählung wachsen ohne jegliche Autorität auf. Sie bewegen sich diesbezüglich in einem leeren, unschuldigen wenn auch beinahe schon surrealen Raum.
„Diese fragwürdigen Existenzen behaupten sich sehr zahlreich, wider das Gesetz, aller Erwartung zum Trotz. In einem Punkt jedoch behielt die Vernunft recht: darin nämlich, dass die Macht der Umstände, wenn sie eine Macht ist, sie in den Untergang treibt.“
Es gilt zunächst in einem ersten Schritt einen Machtbegriff zu generieren, der einer Annäherung an den Text entsprechen und als Kategorie zu Erkenntnissen führen kann. Hierzu soll die Spielweise, wie sie Michel Foucault im ersten Band seiner Abhandlung „Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen“ entwirft, herangezogen und mit den Zugängen des Machtbegriffs, wie er in „Die Kinder der Nacht“ entworfen wird, kontrastiert werden.
Isolation & blinde Flecken
Foucaults Hauptinteresse gilt zunächst der Erforschung der vielgestaltigen und polymorphen Techniken der Macht: in welchen Formen, durch welche Kanäle, mittels welcher Diskurse schafft es eine institutionalisierte Macht, bis in die winzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vorzudringen. Auf welchen Wegen erreicht sie auch die seltenen und unscheinbaren Formen der Lust, wie sie von den Protagonisten von „Die Kinder der Nacht“ praktiziert und (aus)gelebt wird, und auf welche Weise durchdringt und kontrolliert sie auch die alltäglichsten Verhaltensweisen: „Durch die Isolierung, Intensivierung und Verfestigung der peripheren Sexualitäten verästeln und vermehren sich die Beziehungen der Macht zum Sex und zur Lust, durchmessen den Körper und durchdringen das Verhalten.“ Was ist nun letztlich der Zusammenhang von Bewusstsein und Wille zum Wissen mit dem alles mit sich reissenden Strom des Vergessens zu vereinbaren – welcher blinde Fleck bleibt an sich übrig in dem sich die ganzen Machtzentren bündeln und von wo aus sie ausstrahlen.
Das Spielen des Spiels
Denn wie Foucault weiter ausführt: „Lust und Macht heben sich nicht auf, noch wenden sie sich gegeneinander, sondern sie übergreifen einander, verfolgen und treiben sich an. Sie verketten sich vermöge komplexer und positiver Mechanismen von Aufreizung und Anreizung.“ In der Erzählung erscheint das Zimmer der beiden Geschwister als der Ort und der Raum an dem sich diese Verschränkung sehr deutlich zeigen lässt. „(…) [I]n diesem abstrakten Zimmer, das imstande war, überall wider zusammenzuwachsen“ als einem Nicht-Ort – kumuliert die Verquickung von Lust und Macht, in dem es den Raum darstellt, an dem die Kinder das Spiel spielen, das sie in rauschähnliche Zustände versetzt, der sie blind gegenüber der Realität macht. Dieses Spiel ist zunächst eine Form der Kontrolle, der Machtausübung über das eigene Bewusstsein, doch es mündet letztlich in eine Art der Aneignung der gesamten Realität, die in das Zimmer Eingang findet.
„Doch was sie sahen und hörten, wurde nicht ihr Eigentum. Knechte eines unerbittlichen Gesetzes, brachten sie es in das Zimmer heim, wo man Honig daraus bereitete.“
Rauschzustände
Die Äusserung, dass die Kinder das was sie ausserhalb des Zimmers in der Realität wahrnehmen, nicht zu ihrem Eigentum machen, bedeutet zunächst, dass sie es nicht als Gegenstand einer (wie auch immer) allmächtigen und allgegenwärtigen Realität anerkennen und fixieren. Es bleibt gewissermassen verflüssigt und dient als Ingredienz ihrer rauschhaften Wirklichkeit jenseits der Welt, die sich „[i]n diesem Zimmer, das so wenig geeignet war, sich einer Ordnung zu fügen“ausbreitet.
„(…) niemals fürchtete sie ihre Freunde könnten auch auf Rauschgifte verfallen, denn sie handelten unter dem Einfluss einer eifersüchtigen natürlichen Droge, und hätten sie Rauschgift genommen, so wäre dies soviel gewesen, als wollte man weiss auf weiss, schwarz auf schwarz malen.“
Foucault geht diesem Umstand in „Wahnsinn und Gesellschaft“ nach und kommt zu folgendem Schluss: „In dem Masse, in dem zum Wesen des Bildes gehört sich als Realität darzustellen, gehört es umgekehrt zur Wirklichkeit ein Bild vorspielen zu können und sich als aus der gleichen Substanz bestehend auszugeben und so zu tun, als verfüge sie über die gleiche Bedeutung.“ Die Verschränkung von Traum und Wirklichkeit, Rausch und Realität klingt an und konkretisiert sich wenn Foucault weiter ausführt: „Ohne Stoss, ohne Bruch kann die Wahrnehmung den Traum fortsetzen, seine Lücken füllen, ihn in dem bestätigen was er an Unsicherem besitzt, und ihn zu seiner Erfüllung führen. Wenn die Illusion als ebenso wahr wie die Wahrnehmung erscheinen kann, kann die Wahrnehmung ihrerseits sichtbare, unabweisbare Wahrheit der Illusion werden.“ Das ist letztlich der blinde Fleck in der Wahrnehmung auf den es bis in seine letzte Konsequenz abzuheben gilt.
Raum und Traum
In dem Raum, in dem sich die Verschränkung von Illusion und Realität, von Traum und Wahrheit vollzieht, stellt in Fragen der Autorität eine Art von Vakuum dar. Man könnte sagen, dass die Kinder, die sich nach Innen (in ihre privat-subektive Sphäre und in einem weiteren Schritt in die Versenkung in ihr Bewusstsein) wandten – um gegen aussen sich nurmehr als bizarre, schwer fassbare Schemen und Schattenrisse behaupten:
„Die Ausnahmewesen und ihre asozialen Taten sind der Reiz einer Durchschnittswelt, die sie ausstösst. Mit Beklemmung gewahrt man des Zyklons, in dem diese tragischen und leichten Seelen atmen.“
Und so bleibt das Zimmer in eine Sphäre des Irrealen getaucht und verbleibt durchtränkt mit den Erinnerungen die sich in ihm vollzogen haben, Erinnerungen wie an einen Traum, diffus und nicht greif- oder fassbar.
„[Es (d.i. das Zimmer)] trieb nach allen Richtungen ab (…). Wenn man sich in einem beliebigen anderen Raum befand, wurde es unmöglich seine Lage anzugeben, und wenn man es betrat, seine Position im Hinblick auf die anderen Räume zu ermitteln.“
Die Illusion, frei zu sein, bedeute, „dem Bann der Autorität entkommen zu sein.“ Doch was bedeutet eine unbedingte Freiheit? Sie wäre grenzenlos und somit nichtig, verlöre sich in der Unendlichkeit eines leeren Raumes. Freiheit entsteht immer nur in Relation zu Widerständen an denen sie sich misst. Gerade letztere werden im Zusammenhang mit Freiheit zu äusserst produktiven und in diesem Sinne (de)konstruktiven Reibungsflächen.
„Vor allem aber galt es, koste es was es wolle, zu jener Wirklichkeit der Kindheit zurückzufinden, jener ernsten, jener heroischen und geheimnisvollen Wirklichkeit, die sich von unscheinbaren Einzelheiten nährt und deren Zauber durch die (…) Erwachsenen rücksichtslos zerstört wird.“
Diesem Zauber, von dem die ganze Erzählung lebt und aus der sie ihre Kraft schöpft, sind die Kinder letztlich erlegen. In der Spannung zwischen Flucht und Zuflucht, die das Zimmer bietet, bleiben sie letztlich gefangen.
Intrige & Verrat
Das Machtrelief der Gruppe und deren Kohäsion löst sich auf mit der Möglichkeit der Befreiung von deren Verstrickungen und zwingt in einem letzten Aufbäumen des Widerstands zur Intrige, zum Verrat als einzigem Ausweg. Der Moment an dem sich Macht und Wissen (Wille zum Wissen) verschränken und entladen, kumuliert der Verlauf der Erzählung. Hier legt sie den Blick frei auf die (letztlich verborgenen) Spuren eines stets sich zeigenden Moments des Entzugs: der blinde Fleck der Autorität, die sie gefangen hält und der sie letztlich erliegen vollzieht sich in einer Bewegung hin zu einer (in ihrer Form unbedingten und damit nichtigen) Befreiung, die von Anfang an mitschwingt. Dieser Wunsch nach Freiheit (und alle mit ihm verbundenen Sehnsüchte) durchdringt und bestimmt ihre Realität ganz und gar. Und gerade ihre unbedingter, weil bedingungsloser Wunsch nach Freiheit wird ihnen letztlich zum Verhängnis, indem gerade im Moment ihrer letzten Konsequenz und Vollendung das tragische Scheitern der Kinder offenbar wird.
Auswege und Grenzgänge
Für einen Aussenstehenden gibt es nur einen Weg in diese Sphäre hineinzugelangen, wie das Beispiel von Elisabeths Verlobtem Michael zeigt.
„Das erstaunliche Abenteuer der Hochzeit und seines Todes versetzte dieses wenig geheimnisvolle Wesen in den Bezirk des Geheimnisses. Indem er ihn erdrosselte hatte der lebendige Schal ihm die Türe des Zimmerst aufgetan. Anders hätte er niemals Zutritt gefunden.“
Umgekehrt scheint es aus dem Zimmer nur einen Weg hinaus zu geben.
„Angesichts einer Gefahr dieser Art, schwankt die Kindheit zwischen zwei äussersten Möglichkeiten, da sie nicht ahnt, in welcher Tiefe das Leben und seine mächtigen Hilfsmittel verankert sind, stellt sie sich alsbald das Schlimmste vor; dieses Schlimmste jedoch scheint ihr kaum als wirklich, weil es ihr unmöglich ist den Tod ins Auge zu fassen.“
In diesem Kontext, eingangs der blinde Fleck der Macht genannt, entfaltet sich die Erzählung, von ihm (d.i. dem Spiel mit dem Tod, in seiner diffusen und nicht realen, rauschhaften Form) wird sie getragen und mündet letztlich in diesen mit seinem Eintreten als seiner letzten Konsequenz.
Literatur zum Thema:
Jean Cocteau. Les enfants terribles. Klett-Cotta. 1929.
Michel Foucault. Wahnsinn und Gesellschaft. Suhrkamp 1969.
Michel Foucault. Sexualität und Wahrheit 1. Suhrkamp 1977.
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