Slavoj Zizek gilt als einer der radikalsten und kontroversesten Denker der Gegenwart. Er kennt die Psychoanalyse wie kein Zweiter – gleichzeitig dreht er den Film „The perverts guide to cinema“, in dem er Kinofilme unter psychologischen und philosophischen Gesichtspunkten analysiert. Was aber hat die Philosophie auf der Kinoleinwand verloren? Und was hat dies wiederum mit unserer ganz alltäglichen Wahrnehmung der Realität zu tun?
Christoph Schmassmann
Das sind Fragen, die sich aufwerfen, wenn man sich mit dem Thema Film und Philosophie beschäftigt. Dabei gilt es etwas auszuholen: Es ist eines der zentralen Merkmale der postmodernen Philosophie der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, dass sie sich von den grossen Denkern der Moderne entschieden abzugrenzen beginnt. Deren „Gedankengebäude“ werden als in ihrer Form abgehobene Konstruktionen entlarvt, die letztlich beim Erleben und Wahrnehmen wie Erklären der Welt nicht mehr greifen. Diese setzen eine Einheitlichkeit und Absolutheit voraus, wo es letztlich nur multidimensionale Perspektiven gibt, die ständigen Verschiebungen ausgesetzt sind. Um an dieser Stelle einen ihrer Vorreiter zu bemühen, kann man mit Nietzsche nicht mehr von einer allgemeingültigen Wahrheit oder Wirklichkeit ausgehen. Für ihn gibt es nurmehr menschliche Hineindichtungen und deren Relationen, Pluralität und „ewige Horizonte“. Um es auf den einen Nenner zu bringen: „Gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.“
Bilder und Gedanken in Bewegung
Gilles Deleuze hat in den Achtzigern schliesslich den auf den ersten Blick doch recht ungewöhnlich erscheinenden Komplex von oberflächlichen Bildern und tiefgründigem Denken aufgegriffen. Gefragt nach dem übergreifenden Zusammenhang hat er auf den Umstand verwiesen, dass der Film zu genau dem Zeitpunkt auftaucht, an dem die Philosophie versucht die Bewegung zu denken: auf der einen Seite die Bilder, die animiert werden – auf der anderen Seite fest gefügte Begriffs- und Gedankengerüste, die sich mit einem Mal dynamisch ineinander fortzusetzen beginnen, mitunter in ihrer absoluten Gültigkeit verabschiedet werden. Zunächst vollzieht sich beides in unabhängigen Entwicklungen voneinander bis schliesslich eine Begegnung möglich wird.
Deleuze entwirft eine Konzeption, in der sich in die schlichte Aneinanderreihung von faktischen Begebenheiten (in der Filmtheorie nennt man dies den Plot) nach und nach und zunächst unmerklich das Imaginäre einzunisten beginnt. Wie ist das nun genau zu verstehen? Am besten geht man von zwei Ordnungen aus (mit Deleuze zu sprechen von zwei Existenzweisen), die zunächst unabhängig voneinander zu betrachten sind, um sie anschliessend ineinander verschränkt denken zu können: auf der einen Seite die ganzen Verkettungen von Fakten, dem Realen, wenn man so will – auf der anderen Seite deren Aktualisierungen im Bewusstsein, dem Imaginärem also, das sich von gesetzmässigen und logischen Ordnungen frei macht und seinen eigenen Wert beansprucht. Der Effekt, der sich schliesslich einstellt, ist folgender: nämlich dass die beiden Ordnungen, die zunächst nacheinander auftreten, sich ineinander verschränken, ihre Rolle zu vertauschen beginnen und schliesslich ununterscheidbar werden.
Deleuze nennt dies das Kristallbild, in dem die beiden Ebenen des Bildes und des Bewusstseins plötzlich von sanften bis erschütternden Übergängen gekennzeichnet sind. Ich sehe etwas – doch das ist niemals objektiv, somit als real Fassbares zu denken, sondern mischt sich immer mit der Emotion, dem Irrealen, dem Traum und somit kurz: dem Imaginärem. Eine ständige Metamorphose setzt ein, Grenzüberschreitungen ereignen sich und plötzlich und unmerklich ist man mitten im Film – oder der Film in einem selbst.
Die Inhärenz von Ich und Welt
Deleuze ist bei weitem nicht der einzige Denker, der sich dem Phänomen widmet. Maurice Merleau-Ponty gewinnt sowohl der zeitgenössischen Psychologie wie der aktuellen Philosophie einen gemeinsamen charakteristischen Zug ab: sie zeigen nicht mehr den Geist und die Welt, sondern das in die Welt geworfene Bewusstsein. Ein Grossteil der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts beruht ihm zufolge genau auf diesem Staunen über diese sogenannte Inhärenz von Ich und Welt – nämlich dass das Ich sich dabei als einen Teil der Welt erfährt, genauso wie es umgekehrt die Welt in der Abhängigkeit von seinem eigenen Bewusstsein zu erkennen beginnt. Und so scheint auch ihm das Kino besonders geeignet, die Verbindung von Geist und Körper, von Geist und Welt und den Ausdruck des einen im anderen hervortreten zu lassen.
Dort setzt auch Zizek an. In seinem Film „The perverts guide to cinema“ verfolgt er vor allem einen Gedanken. Das Kino ist besser geeignet gewisse Dinge offenbar werden zu lassen als die ganzen sogenannten harten Fakten zu einem Thema, geschweige denn als eine Philosophie, die sich auf diese zu reduzieren zu müssen meint. So sagt er einmal in einem Interview selbst, dass sich an einem guten Witz oder eben einer guten Szene gewisse Dingen veranschaulichen lassen, weil sie dort gewissermassen ins Auge springen, sich in ihrer nicht mehr zurückzuweisenden Evidenz offenbaren. Das heisst für einen der stärksten Kritiker des Kapitalismus natürlich auch und vor allem eines: „If you want to know about ideology – forget about reality, look at films!”
Das verlangt nach Beispielen. So klärt Zizek etwa die Frage nach der menschlichen Freiheit anhand eines Videospiels. Man soll sich zunächst Gott als eine Art Programmierer denken, der nicht jedes Detail des Spiels bis ins letzte ausdifferenziert hat, weil beispielsweise nicht vorgesehen ist, dass man in ein gewisses Haus, das im Hintergrund erscheint, hineingeht. Und genau dort gilt es seiner Meinung nach anzusetzen. Dies könnte nun auch genau das sein, was die Quantenphysik entdeckt hat: sind es nun Wellen oder Teilchen? Wenn man nur nah genug, bis zu einer subatomaren Ebene herangeht, wird es unscharf und nicht mehr genau identifizierbar – die Dinge sind also in einem ganz objektiven Sinn nicht genau determiniert. Als Materialisten müssen wir uns heute diesen Umstand ohne Gott denken – und so rettet Zizek die menschliche Freiheit, die auf den ersten Blick in all ihren Bereichen entweder von gesellschaftlichen Normen und Konventionen oder bis tief hinein in das eigene Ich durch das Unbewusste bestimmt zu sein scheint: denn auch hier gilt, dass Tatschen sich nicht mehr einstellen und alles letztlich von unserer Interpretation abhängt.
„I want the third pill“
Jeder kennt die Szene aus dem Kultfilm “Matrix”, in der Neo von Morpheus die beiden Pillen angeboten bekommt. Die eine lässt ihn in seine nicht reale Traumwelt der Matrix zurückkehren, die andere offenbart ihm die ganze harte Realität, an deren Schwelle er sich zu diesem Zeitpunkt des Films befindet. An diesem Punkt steigt nun Zizek ein. Er will gerade nicht die eine Unterscheidung von absoluter Realität auf der einen Seite und der reinen Illusion auf der anderen Seite annehmen, zumindest ihr in keiner Wiese weiteren Vorschub leisten. Und an diesem Punkt fühlt man sich nun ganz stark an Deleuze erinnert: „I want to know about the illusion in reality itself.“ Zizek interessiert also hierbei nicht mehr die strenge Grenzscheide von Wirklichkeit und Illusion, Traum und Realität, sondern eben die Anteile der Illusion an der Realität bzw. die unleugbare Realität der Illusion selbst, in der wir alle leben.
Das Schöne und zugleich radikal Andere, auf das Zizek dabei abhebt, ist eine Wiederverzauberung der Welt und einer an sich harten Realität auf der einen Seite, sowie eine Entzauberung der Illusion und der Mechanismen der Macht auf der anderen Seite. Und wenn es letztlich etwas aus dem Nexus von Philosophie und Film zu lernen gibt, so ist es Folgendes: die eine Realität, die wir haben, ist letztlich imaginär – doch Vorsicht: das Imaginäre ist real.
Im Netz
Artikel zum Thema: „Philosophie und Film – Stationen eines Diskurses“.
Zweisprachiges Forum (deutsch / english) zum Thema.
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