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Zum Phänomen der Grenze

Eine Schwellenerfahrung in der Zeit



Auf einen ersten Blick scheinen sich die durch Grenzen etablierten Räume gegeneinander und exklusiv zueinander zu verhalten: die durch sie geschiedenen verräumlichten Strukturen stellen Orte der Macht dar und scheiden klar ein Innen gegenüber dem Aussen, das Eigene vom Anderen. Doch es existieren auch kulturwissenschaftliche Thesen, dass Grenzen, in welcher Form auch immer diese sich ausdifferenzieren, und allen voran die Grenzen des Bewusstseins in der Regel zu Schwellen tendieren, welche Zonen des Austauschs sowie der gegenseitigen Konfrontation ermöglichen.

 

Christoph Schmassmann


Als ersten Schritt und Eröffnung in der Entfaltung der weiteren Gedanken gilt es zunächst das Konzept der Grenze als Phänomen zu etablieren, um es näher befragen zu können: inwiefern bestimmt dieses unser Bewusstsein und unsere Sicht auf das Eigene und damit impliziert auch die Sicht auf und den Umgang mit dem Anderen, Fremden? Gerade in diesem Zusammenhang gilt es jenes kulturwissenschaftliche Konzept der Grenze über den Blick auf das Andere auch sehr stark zu erweitern auf das Miteinander und das Zusammenspiel von Eigenem und Fremdem, um jenes gleichzeitig trennende aber immer auch Verbindung implizierende und ermöglichende Moment der Scheidung (welches über das gemeinsame wie gegenseitige Aufeinandertreffen des an sich voneinander Geschiedenen Zonen des Austauschs schafft und etabliert) schliesslich auflösen zu können. Dies bedeutet nicht eine reine, schrankenlose Entgrenzung im Sinne einer Bewegung im leeren Raum, ohne dass sich da nicht erneut Widerstände bildeten, an denen das Bewusstsein Halt findet und nach deren Massgabe es sich (weiter-)entwickeln kann. Die so ermöglichten Schwellenerfahrungen bilden in diesem Sinne für das Bewusstsein (und gerade für jene Ebene seiner unbewussten Mechanismen und vorbewussten Anteile) die Bedingung der Möglichkeit seines Fortbestehens, indem es Grenzen wahrnimmt, sich an ihnen misst, abarbeitet und diese so letztlich auflösen und überwinden kann. 

 


Herleitung

Eine räumliche Grenze ist immer mehr als eine geographische Markierung, denn sie hat immer auch politische und damit gesellschaftliche und kulturelle Relevanz. Die Grenze markiert und stabilisiert hierbei die jeweilige politische Ordnung. Diese elementare Verflechtung der Grenze mit politischen Ordnungen verbindet die Grenze mit verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen. So dienen Grenzen in jedem Falle zunächst einer gegenseitigen Orientierung im gelebten Raum zwischen den einzelnen politischen Systemen. Doch darüber hinaus sind jene mit Macht, Ungleichheit und Rassismen gesättigten Konstrukte immer auch Formen des Aus- sowie Einschluss. Ein zentraler Mechanismus der Grenze bleibt hierbei, dass sie ein ausgeschlossenes, meist diskreditiertes Draussen gegenüber einem gewollten und in diesem Sinne vertrauten Drinnen etablieren. Die Grenze ist somit immer auch eng mit der Etablierung von Binaritäten verbunden.

 

Fundierung

Im Zuge des spatial turn Ender der 80er Jahre haben räumliche Grenzziehungen zwischen nationalen, sozialen, kulturellen oder ethnischen Gruppierungen vermehrt die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen, wobei die Thematik bei aller Heterogenität der Ansätze und Perspektiven dennoch immer eng an das der kollektiven Identität gebunden erscheint. Der unter dem Konzept der «frontier» sich ausbildende Begriff der Grenze legt den Akzent sehr stark auf Machtmechanismen des Ausschlusses und des Gegeneinanders von kulturell unterschiedlich geprägten Räumen. Er bildet denn auch starre, in sich wenig flexible und mitunter stark machtgesättigte und durch Sanktionen gefestigte Begriffsmuster und Sinnstrukturen aus. In der Behauptung von dadurch etablierten Grenzscheiden durch die vorgängige Annahme von Kulturräumen als in sich geschlossene Konstrukte, die sich zueinander exklusiv verhalten, werden die gesonderten Bereiche von kulturellem Leben (mitunter von Politik, Wissenschaft und Kunst) als Machtmittel einer herrschenden Ordnung besonders gut ersichtlich. In der dadurch etablierten auf Trennung basierenden Diskursen des Ausschlusses lassen sich an einem der zentralsten Pfeiler einer jeden Kultur, in deren Auslegung und Verständnis der in ihr und durch sie vollzogenen ästhetischen Praktiken, gewisse Gegebenheiten besonders gut durchspielen und aufzeigen, womit schlicht diejenigen kulturellen Verschiebungen impliziert werden, welche unter anderem durch den Raum der Kunst eröffnet werden.

 

Dezentrierung

Denn Grenzen verlaufen nicht nur rein räumlich zu einer Absonderung am äusseren Rand und sind so gesehen etwas rein Peripheres. Sie sind gleichzeitig etwas, das sich mitten unter uns zu manifestieren pflegt, und etwas, das sich auch in unserem mitunter sozialen Miteinander, wie Emil Angehrn (emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Basel) entwickelt hat, zu einer möglichen Überschreitung anbietet.

«Mit Grenzen haben wir nicht nur am äusseren Rand zu tun. Wir stossen auf sie nicht nur in der Grenzregion, vor der Scheidelinie zwischen zwei Bezirken. Eine Grenze überschreiten heisst nicht nur über eine Schwelle, eine Trennlinie in ein anderes Territorium hinüberzugehen. Es kann auch heissen, die Grenze als solche hinter sich zu lassen, sie als Begrenzung zu überwinden.»

Denn jenes radikal Andere ist in mehr philosophischen Kontexten nicht einfach ein beziehungsloses Fremdes, sondern ein Anderes, mit dem der Mensch im Innersten seiner selbst zu tun hat. Es verweist in diesem Sinne in der Überwindung von durch Grenzen etablierten Strukturen, indem man jene auf die dafür notwendige Setzung eines Jenseits der Grenze erweitert, immer auch auf den Urheber der Grenzziehung selbst zurück. Denn indem der Mensch auf Grenzen stösst, verweist er gleichzeitig auf das Eigene in der dadurch vollzogenen Setzung als wirkliche Grenze. Indem er auf jenes mit ihrem Jenseits implizierenden, möglichen Überwinden der hier trennenden und auf Ausschluss zielenden Konzeption der Grenzen stösst, wird er seiner selbst bewusst und erst der Verfasstheit seiner selbst gewahr. In der Begegnung mit dem Anderen als fremd Strukturierten wird er so mit sich und mit dem Grund und der Auslegung seines eigenen Seins konfrontiert. Inmitten des Lebens hat er so mit sich und der überall ihn umgebenden Grenzziehungen, als auch mit dem Jenseits der Grenze zu tun als eine Herausforderung seines weltlichen diesseitigen Seins. Somit werden dann auch die konkreten Erscheinungsformen der Grenze als Verweis auf das Eigene im Fremden (von abstrakten Trennlinien über Kontaktzonen und Grenzdynamiken in ihrer je konkreten Differenzierung und Sinnbildung zu der Grenzüberwindung als einer Aufhebung des Trennenden in der Grenzerfahrung) verfolgt, wobei schliesslich Grenzen zu liminalen Schwellen zu avancieren tendieren.

 

Auflösung

Dabei darf nicht übersehen werden, dass die mit Macht gesättigten Setzungen, welche reale politische Grenzen etablieren, in erster Linie als Grenzen des Raumes sich entwickeln, welche auf Ausschluss und Abgrenzung gegenüber dem Anderen beruhen. Demgegenüber schaffen gerade kulturelle Grenzen, welche in diesem Sinne hier zunächst als Sprachgrenzen zwischen den einzelnen Kulturräumen verstanden werden, Zonen des Austauschs und ermöglichen so durch die gegenseitige Reflexion über das jenseits der Grenze sich ausdifferenzierende und etablierende Andere im Fremden neue Sichtweisen auf das jeweils Eigene im vertrauten Diesseits. Erst dadurch erstarrt jenes nicht in der Norm der Gewohnheit in jenen an sich willkürlich gezogenen Grenzen und es können sich so auch über die Zeit neue Veränderungen innerhalb und in der gegenseitigen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Kulturräumen vollziehen. In einem weiteren Schritt der Erweiterung und Entgrenzung der damit vollzogenen Setzungen in dieser Reihe schaffen jene Grenzen, welche sich durch die Annahme einer autonomen Form der Kunst etablieren und die dadurch vollzogene Trennung von Wirklichkeitsräumen auch als Möglichkeitsraum und ästhetisch erweiterbar auffassen, im Sinne einer Volte in den Bruchlinien zwischen den normierenden Ordnungen eine Unterwanderung von Grenzen in der freien Entfaltung eines Miteinanders, eine Überwindung der scheinbar trennenden Wirklichkeit des Eigenen und ihm Fremden. Es kommt letztlich durch unterschiedliche ästhetische und kulturelle Praktiken zu einer Auflösung in der Zeit und einem In-die-Schwebe-Bringen der durch jene Grenzziehung etablierten, immer auch normierenden und dadurch in jener Setzung auf Ausschluss basierenden Ordnungen der übergreifenden Vollzüge der Macht und jene durch gewaltsamen Mechanismen aufrecht erhaltenen Strukturen des politisch geschiedenen Raumes beginnen aufzubrechen.

 

Rückkopplung

Darin steckt immer auch ein nicht zu unterschätzendes Moment der Gewalt. Diese Mechanismen der hegemonialen Ordnung können zwar unterlaufen und gerade in der Kunst neu verhandelbar gemacht werden, worin aber in der Konfrontation auch in der Auflösung begriffene, im gegenseitigen Verstehen und Befragen sich als beweglich und kontingent erweisende Grenzziehungen reaktive Impulse der in der normierenden Setzung geladenen Energien freisetzen, welchen es Rechnung zu tragen gilt. Die Implikationen des hier nachgezeichneten, sich vollziehenden Prozess in der Auseinandersetzung mit Grenzen sind immer auch als Impuls der offenen Befragung und durch das Aufzeigen der unbewusst verdrängten Mechanismen der Macht als prozessual in der Zeit sich entfaltendes Phänomen zu sehen – jenseits von stabilen, hegemonialen Ordnungen und festen in sich konsistenten, normbildenden vergesellschafteten Strukturen, welche sich in der näheren und vertieften Auseinandersetzung in Form einer mitunter subversiven, dekonstruktiv sich entfaltenden Kritik in ihrer eigenen Auflösung begriffen sehen, indem sie als in sich beweglich denkbar gemacht und dadurch immer auch als veränderbar aufgefasst werden können.

 



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