Dezentrierung im Kontext kultureller Differenzen
Nach der Auffassung von Jacques Derrida ist Kultur als ein vielschichtiges hybrides System gerade von aussen und vom Rand her zu denken, um Zonen der Interaktion und des Austauschs zu schaffen. Was bedeutet es also die Kultur von ihren Rändern her zu denken? Zunächst einmal feste Zentren und stabile Grenzen zu destabilisieren, eine Öffnung zu erzielen – um so von aussen her neue Impulse setzen zu können.
Christoph Schmassmann
Zeichensysteme und Texturen bestimmen sich gegenseitig – verflechten und vernetzen sich zu einem komplexen Gebilde, das wir Kultur nennen. Texturen als in sich bewegliche Gewebe zeigen sich – wie Derrida in „Randgänge der Philosophie“ skizziert – stets bereit, neue Sinn-Fäden und Kraftlinien einzubeziehen. So werden neue Potentiale und Zusammenhänge geschaffen. Die Metapher eines mehrdimensionalen Netzes mit unterschiedlichen, stets sich verschiebenden und neu formierenden Knotenpunkten kann so als eine Annäherung an Kultur helfen, die Philosophie der Dekonstruktion nachzuvollziehen. Indem diese aufbricht und vorgegebene Strukturen und Normen destabilisiert, sorgt sie zwischen den unterschiedlichen Kulturkreisen stets für neue Potentiale des Austauschs und die Möglichkeit, neue Konstellationen auszubilden. Kulturelle Systeme sind gerade nicht absolut oder für sich allein stehend zu denken, sondern relativ und relational aufeinander bezogen. Denn ohne Relation für sich betrachtet – ohne einen wie immer gearteten Kontext, auf den er sich bezieht – steht ein Kulturkreis beziehungslos im Raume, opak und unbestimmt in seiner Form und jeglicher Möglichkeit zu bedeuten enthoben. Er steht also stets in Wechselwirkungen mit anderen kulturellen Systemen und bleibt in diese eingebunden – und gerade in diesem Zusammenhang gewinnt Derridas Ansatz, von den Rändern und dem Kontext her zu denken, seine bahnbrechende Durchschlagskraft.
Wider die Normierung
In seinen fixierten, festgelegten Grenzen und starren Bedeutungszuweisungen von Eindeutigkeit und Normierung büsst ein kulturelles System letztlich seinen Spielraum und die Möglichkeit ein, sich überhaupt fortzusetzen. Ohne Impulse von aussen und Bezugspunkte ausserhalb geht der Austausch innerhalb komplexer Wechselwirkungen verloren. So wird eine Konstanz und Stabilität behauptet, die so nicht zu halten ist. In der Bewegung der Dezentrierung ist nun in Derridas Sinne konkret das Verschieben des Fokus auf den Kontext fassbar zu machen: und ganz konkret auch auf das von einem gewissen Diskurs oder einer Kultur Marginalisierte und an den Rand Verdrängte. Das Denken von den Rändern her – wie es Jacques Derrida skizziert hat – ist somit der zentrale Mechanismus an dem es sich zu orientieren gilt. Jede Form der Normierung, welche ausschliesst und das Andere und ihr Fremde ausgrenzt, ist einer Kultur selbst inhärent: doch vollzieht sie so gerade durch die ihr eigenen Ausschlussmechanismen ihre Auflösung – sie generiert dadurch ihre eigene Subversion und wird zum Ausgangs- und Scheidepunkt ihrer eigenen Dekonstruktion. Denn ein (Sinn-)System wird an seinen Rändern in seine Widersprüche verstrickbar und destabilisiert sich selbst und zwar gerade durch das, was es zugunsten seiner absoluten Setzung – die mit starren Normen, machtgesättigten Grenzscheiden und etablierten Hierarchien arbeitet – ausblenden muss. Klare Grenzen zu ziehen und feste Zentren oder stabile Hierarchien zu etablieren, ohne diese stets wieder in ihrer eigenen Auflösung begriffen zu denken, wird in diesem Vollzug, der durch die Dezentrierung einsetzt, unterlaufen.
De-Essentialisierung
Der Dezentrierung konträr zu setzen ist das zentrierte Denken, welches seit der griechischen Philosophie und der platonischen Ideenlehre von einem festen universalistisch konzipierten Kern, einer Essenz ausgeht. Gegen dieses setzt Derrida das Konzept einer unabschliessbaren, ständigen Semiose und Pluralisierung von Sinn und den dadurch sich etablierenden Systemen, wie sie Kulturen darstellen. Das heisst zunächst, dass es den einen letztgültigen Sinn in der Form einer allgemeingültigen Essenz schlicht nicht gibt. Deshalb erklärt Derrida auch zweitausend Jahre Philosophie-Geschichte für falsch. In dem Para-Konzept der Dekonstruktion ist es nun gerade nicht eine konventionelle, in ihrer Form habitualisierte Norm oder Essenz, welche dem jeweiligen Bedeutungsträger schlussendlich seine Funktion im Netz eines Kultur-Systems zuweist und ihn näher bestimmt – sondern gerade konkrete, je einmalige Kontexte und Konstellationen, in welche die Träger einer Kultur zueinander treten. Diese lösen sich in einem Vollzug eines gegenseitigen Verweisens und Bestimmens ineinander auf – ein unendlicher progressiv sich entfaltender Prozess setzt ein. Somit verläuft das Spiel der Differenzen und Unterscheidungen, die in jedem Zeichen-System angelegt sind und aus dem Bedeutung geschöpft wird, als ein Prozess des ständigen Sich-Unterscheidens und Aufeinander-Verweisens von Sinnsystemen. Herkömmliche Normen und Gedankenmuster, in denen wir denken und uns bewegen, werden destabilisiert und mitunter undicht, brechen auf – werden neu denk- und verhandelbar. In diesem Prozess, der in der Kultur per se spielt, findet so eine Entzerrung und De-Essentialisierung des Sinns statt. Der Essenz mitunter konträr zu setzen ist die konkrete Existenz oder eine existentielle Seinsweise: diese vollzieht sich als ein je neues performatives Ereignis, das – wie es Derrida in „Die Schrift und die Differenz“ entwirft – nicht mehr an einheitliche Formen oder Strukturen gebunden ist: als ein Aufwerfen von Sinnräumen und je einmaligen Zusammenhängen. Diese werden vielschichtig und bilden hybride Konstruktionen und vollziehen sich als ein stetes Aufschieben, Ausbreiten und Verschieben innerhalb der Textur eines Kultur-Systems.
Texturen in Bewegung …
Dabei sind im Wesentlichen drei Mechanismen von Belang – die sich in Texturen, also Sinnsystemen und Kulturen per se vollziehen: durch sie etabliert sich gerade jene De-Essentialisierung und das Aufsprengen herkömmlicher Begriffsgitter, Normen und Bedeutungsmuster.
Durch die stets wechselnden und nie gleichen Kontexte und die so in eine Textur eingeschriebenen Differenzierungen kommt es zu minimen Unterschieden in der Begriffsbildung – welche Bewegung, Verzeitlichung und ständige Verschiebungen innerhalb eines kulturellen Systems implizieren: die Bewegung der différance sorgt in diesem Zuge für stete Umverteilung und Umschichtungen. Dieser Mechanismus spielt in den sich entfaltenden Zeichenwelten eines jeden Kultur-Raumes. Die multiplen Begriffssysteme potenzieren und relativieren sich in diesem Zusammenhang gegenseitig. Aus der kleinen aber feinen Differenz innerhalb des Spielraumes eines kulturell geprägten Begriffes – seinem Bedeutungsspektrum, der Osziallation zwischen unterschiedlichen Kontexten und seinem steten Hin- und Herstreben innerhalb einer Textur – wird so neues Potential an Sinn- und Bedeutungsspielräumen generiert.
In der versinnbildlichten Form der dissémination als einem Auffächern und Zerstreuen des Sinns in der Form eines polymorphen Prismas eröffnen sich neue Sinnzusammenhänge in der Wechselwirkung zwischen den kulturellen Texturen: als konkretes Bild aufgefasst, das im Bedeutungsspektrum jenes Mechanismus mitschwingt, verweist sie letztlich in seiner metaphorischen Form auf ein Zerstreuen des Samens – eine Streuung also, welche in unterschiedlichen Kontexten je wieder ganz neue Sinnsysteme aufkeimen lässt. Jegliche in diesem Sinne textuelle oder kulturelle Bedeutung – welche wie in einem Kaleidoskop stets neue Sinnsysteme und Verweisungsstrukturen ausbildet – entsteht so in dem Prozess von sich neu zeugenden und erschaffenden Kontexten zwischen Zeichensystemen und ist prinzipiell über die gesamte Vielfalt von Sprach- und Kultur-Räumen verstreut. Diese werden in diesem Vollzug polymorph, vielgestaltig und stets von neuem ausdifferenzierbar – und so quasi füreinander fruchtbar.
In Derridas Konzept der itération schliesslich klingt das Wandern der Kulturen an – ein Ineinander-Vordringen, ihre stete und unhintergehbare Wandlung und gegenseitige Unterwanderung in ihrer Tektonik. Ein Bedeutungsträger lässt sich in diesem Sinne aus seinem angestammten Kontext herauslösen und in einen neuen Sinnraum verpflanzen – er kontextualisiert sich neu und zeugt so neue Zusammenhänge, indem er die Kontexte, aus denen er stammt, mitzitiert und auf diese zurückverweist. Und so entsteht und vollzieht sich jenes Auffächern und Zerfallen des Sinns in aus unterschiedlichen Stätten der Kultur entnommene (in dem hier skizzierten Sinne zitierte) Sinn-Fragmente stets im Prozess dieser Wechsel-Struktur des gegenseitigen Kontextualisierens und Rück-Verweisens.
… Kulturen in Bewegung
So werden die zentralen Mechanismen der Dekonstruktion (mit den in sich beweglichen Vollzügen der différance, dissémination und itération) als ein Unterwandern und eine Subversion von gängigen Normen, Meinungen und Begriffsbildungen zum zentralen Impuls innerhalb eines Kultur-Systems, welches sich nur so in unterschiedlichen Relationen je neu ausdifferenziert. Das Verhältnis, in welches Kulturen zueinander treten, bleibt von diesem bestimmt. Denn als ganze und in sich geschlossene, vermeintlich zentrierte (doch nur dem Schein nach in einer Vollendung begriffene) Konstrukte errichten sie eine letztlich stets fragile Stabilität der Hierarchien und kohäsiven Normen. Diese werden aufgebrochen und subvertieren sich in ihrer absoluten Setzung selbst, indem sie sich von den Rändern her – wo sich der wesentliche Mechanismus ihrer Macht artikuliert – destabilisieren lassen. Der Knackpunkt bleibt letztlich, dass Sinn und Essenz und somit eine Einheitlichkeit vorausgesetzt wird – ohne die scheinbar nicht auszukommen ist – wo es letztlich nur multidimensionale Konstruktionen, Pluralität und relative Perspektiven gibt. Neue Foki sind verlangt in der Auseinandersetzung mit den komplexen Clustererscheinungen und vielschichtigen Kausalitäten, durch die es zu Konfrontationen und Konflikten zwischen den Kulturräumen kommt. Konträre und an sich widersprüchliche Setzungen werden so zu Reibungsflächen – an der sich Realität nicht nur misst, sondern immer wieder auch neu entzünden kann, fruchtbar werden und so erst befähigt wird sich fortzusetzen. Es gilt also sich vor dem Wandern der Kulturen (ihrem Unterwandern, dem Wandel und der Wandelbarkeit) nicht zu verschliessen, sondern eine Öffnung von Grenzbereichen und Zonen des Austauschs zu etablieren: Es bleibt letztlich die gegenseitige Einflussnahme von unterschiedlichen Kulturkreisen zu fördern und zu fordern, indem sich trennende Grenzen zu verbindenden Schwellen umformen und so nicht nur ein gegenseitiges Verstehen und offenes Verständnis ermöglicht wird, sondern auch kulturelle Differenz mit der je eigenen Identität zusammen und für diese gerade notwendig gedacht wird.
Literatur zum Thema:
Jacques Derrida. Randgänge der Philosophie. Passagen Verlag 1972.
Jacques Derrida. Die Schrift und die Differenz. Suhrkamp Verlag 1976.
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