Oder wie man sozialen Sprengstoff entschärft
Die Avenue ist ein noch ganz junges Magazin für Populärwissenschaften. Es pflegt hingegen einen völlig neuen Ansatz, indem die beiden Initianten in den von ihnen veröffentlichten Artikeln mehrheitlich Themen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften fokussieren.
Christoph Schmassmann
Damit betreten Corinna Virchow und Mario Kaiser Neuland auf diesem Terrain – waren doch populärwissenschaftliche Magazine bis anhin mehrheitlich von den Natur- und Technikwissenschaften dominiert. Anfang 2016 gingen sie mit den ersten Artikeln online und hängten Texte in gekürzter Form als Wandzeitungen an Bus- und Tramhaltestellen aus. Schliesslich erschien im Oktober letzten Jahres die erste Printausgabe und es folgen weitere Nummern im vierteljährlichen Zyklus – zurzeit sitzen sie an der dritten Ausgabe.
Was hat euch dazu bewogen ein solches Magazin zu gründen?
Mario Kaiser: Seit hundertsiebzig Jahren gibt es diese Tradition der Wissenschaftskommunikation. Also dass bestimmte Magazine – wie Spektrum der Wissenschaft, Bild der Wissenschaft, Peter Moosleitner und so weiter – populärwissenschaftliche Erkenntnisse aus den Natur- und Technikwissenschaften publizieren. Das kommt meist sehr faktisch daher. Letztlich wird dieses Wissen aus den Naturwissenschaften auch zu Fakten gemacht im Prozess dieser Popularisierung. Das wollten wir nicht mit unserem Konzept. Wir wollten zeigen dass Geistes- und Sozialwissenschaften lediglich Wissensangebote machen, die diskutiert werden können. Es sind Einladungen für Reflexionen, um weiter zu denken. Aber es stellt letztlich kein abgeschlossenes oder gehärtetes Wissen dar.
Und welche Medien eignen sich hierzu?
Corinna Virchow: Einerseits werden die Artikel online publiziert, wo auch die Möglichkeit besteht, diese zu kommentieren. In diesem Sinne gilt es das Beste aus einem Medium herauszuholen und das ist, wenn man online publiziert, dass die Artikel diskutiert, kritisiert und kommentiert werden können.
M.K. Wir wollten damit sozusagen die Diskursivität oder auch das Unfertige von Wissen vorführen, und Wissen gerade nicht als Fakten, sondern eben als Wissensangebote präsentieren.
C.V. Und als Prozess! So führt die Diskussion um einen Text gerade vor, dass alles was da so festgeschrieben scheint, sofort weitergeschrieben wird. Und die Printausgabe stellt in diesem Zusammenhang einfach ein still oder ein freeze in diesem Prozess dar: also ein vorübergehendes, vorläufiges Angebot.
Was erwartet ihr von euren Lesern?
M.K. Wir wollen den Leser dazu einladen, aktiv an der Wissensgenerierung teilzunehmen. Es ist nicht so zu verstehen, dass wir davon ausgehen, dass unser Publikum grundsätzlich weniger Wissen hat als ein Geistes- oder Sozialwissenschaftler und man das Wissen quasi wie in einem Bach herabfliessen lassen muss, dass es dann auch dort ankommt, wo es kein Wissen gibt. Im Gegenteil gehen wir davon aus, dass unser Publikum über sehr viel Wissen, Informationen und Expertisen verfügt. Wir haben in diesem Sinne kein Defizitmodell von Öffentlichkeit und wollen einladen aktiv an der Gestaltung und Konstruktion von Wissen teilzunehmen.
C.V. Zu Beginn hatten wir ja noch keine Idee davon, was unser Publikum sein wird. Doch sind wir davon ausgegangen, dass einerseits an der Universität sehr viel Wissen produziert wird und auf der anderen Seite ausserhalb der Universität ebenfalls sehr viel Wissen kursiert. Da gilt es schliesslich festzustellen, dass das eine Wissen mit dem anderen oft sehr wenig zu tun hat. Also dass da kein wirklicher Austausch stattfindet und das war letztlich unsere Idee: diesen zu erzeugen. Es ging darum dies zu befördern, angesichts dessen, dass es einfach noch keinen etablierten populärwissenschaftlichen Journalismus aus den Geistes- und Sozialwissenschaften gibt.
Aber es gibt doch das Feuilleton, das geisteswissenschaftliche Thematiken behandelt?
M.K. Das Feuilleton hat unsere Sehnsucht nicht mehr gestillt und auch andere Medien. Wir wollten im öffentlichen Diskurs wieder mehr Reflexion, mehr Denken und letztlich auch wieder mehr Zweifeln präsent haben. Dieses Bedürfnis wurde so stark, dass wir dachten, wir müssen unbedingt ein solches Projekt starten, damit diese Wissen auch zirkuliert – dass es frei und gut verfügbar wird und Teil einer Wissenskultur.
Könnt ihr ein Beispiel nennen, um das zu veranschaulichen?
C.V. Man kann das auch innerhalb der Populärkultur selbst verfolgen, wie das interpretierende Wissen mehr und mehr an den Rand verdrängt wird. Columbo als Detektiv wird zunehmend abgelöst von CSI – durch das Mikroskop oder die DNA-Probe. Die Beweisführung erfolgt nicht mehr darüber, dass jemand eine Geschichte oder das Handeln einer Person nachempfindet, sondern ein Haar oder ein Tropfen Blut liefern die Beweise.
M.K. Also der Täter besteht nicht mehr aus Motiven und Handlungsmustern, sondern nur noch aus den Spuren, die er hinterlässt. Also der Grund für seine Tat spielt keine Rolle mehr oder nur marginal. Es geht mehrheitlich darum, ihn anhand von Spuren zu überführen. Und wir wollen einfach wieder mehr Columbo im öffentlichen Diskurs haben, der herausfindet, warum jemand eine Tat begangen hat und was seine Motive sind.
C.V. Geisteswissenschaften – ausser vielleicht die Geschichtswissenschaften – kämpfen immer um ihre Legitimität. Und die Zweifel an ihrer Legitimität rühren nicht zuletzt auch daher, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften einfach verpasst haben, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten.
Wie gestaltet sich die Themenfindung?
M.K. Also sagen wir es ganz offen: wir haben gestritten. Wir haben uns zwei Stunden in die Badewanne gesetzt und disputiert – und am Ende hatten wir acht Themen. Wobei zu sagen ist, dass diese sich im Prozess immer noch verändern. Zum Beispiel hatten wir für unsere zweite Ausgabe ursprünglich das Thema „Habitus“ – ein Konzept des französischen Soziologen Bourdieu – wussten aber auch, dass es nicht bei dem stehen bleiben darf. Natürlich wollten wir alles, was dieser Begriff mit sich bringt auch in die Diskussion mit hineinnehmen, aber es nicht grundsätzlich wissenschaftlich angehen, sondern an ganz konkreten Fällen durchspielen und es in diesem Zuge auch anschaulich machen. Und so sind wir auf die Idee des Hochstaplers gekommen, weil dieser bis zu einem gewissen Grad einen Habitus simulieren muss. Und in der Art und Weise wie dieses Konzept an der Figur des Hochstaplers brüchig wird, lässt sich eben auch ganz viel über unsere Gesellschaft zeigen und erfahren.
C.V. So sind wir also zunächst von einem Begriff aus der Wissenschaft ausgegangen, den wir dann anschaulich, gewissermassen greifbar zu machen versuchten.
M.K. Dann ist es aber auch so, dass dieser Begriff des Hochstaplers einfach auch eine ganz tolle Eigendynamik entwickelt hat. Da haben uns Beiträge erreicht, an die wir niemals gedacht hätten, die das Suchraster total gesprengt haben. Und wir waren mehr als glücklich mit dem Entscheid, vom Habitus zum Hochstapler gekommen zu sein.
C.V. Also so gestaltet sich die Themenfindung. Es ist ein fortlaufender Prozess. Und von den acht Themen, die wir uns am Anfang in diesen zwei Stunden ausgedacht haben, sind einige noch sehr präsent und andere rücken wieder mehr in den Hintergrund.
Könnt ihr da ein Beispiel nennen?
C.V. Die Leute haben uns beispielsweise immer gedrängt, wir sollten doch etwas zu Flüchtlingen machen, da dieses Thema extrem aktuell wäre. Und wir haben uns dann überlegt, dass ja momentan alle etwas zu Flüchtlingen bringen, aber es grundsätzlich viel zu wenige Themen gibt, über die in diesem Zusammenhang geredet wird. Im Prinzip sprechen wir auf der einen Seite über Migration und auf der anderen Seite über Sicherheit. Und dazwischen gibt es leider sehr wenig über das man sprechen kann, zumal diese beiden Begriffe extrem eng zusammengeführt werden. Es hat uns gestört am öffentlichen Diskurs über Flüchtlinge, dass dieser so stark angstbesetzt ist und damit leicht zu manipulieren wird. Wir brauchen mehr Themen und mehr Leute die über mehr unterschiedliche Themen reden, damit nicht einfach wenige dieses Feld in der öffentlichen Meinung besetzt halten.
M.K. Der Raum des Denkbaren oder auch der Raum dessen, worüber man sprechen kann und was thematisierbar ist, wurde aus unserer Sicht massiv eingeengt. Das heisst nicht, dass wir uns weigern über Flüchtlinge zu sprechen, aber nicht so, wie das momentan im öffentlichen Diskurs der Fall ist. Wir würden gern diese Problematik angehen – wobei sich schon die Frage stellt, ob man wirklich von einer Problematik sprechen kann. Auch das muss möglich sein, doch wollen wir uns nicht von diesem sturen Blick einengen lassen, dass wir es hier mit einem riesigen Problem zu tun haben, das es in diesem Sinne zu lösen gilt. Sondern wir wollen uns auf die Suche machen nach neuen Blickwinkeln, die eine massiv entdramatisierende Perspektive auf die Thematik werfen können.
Und wie wollt ihr das erreichen?
C.V. Tatsächlich haben wir eine Ausgabe in Planung im Januar 2018, die sich am Rande mit dem Thema „Flüchtlinge“ beschäftigen könnte. Dabei geht es uns um junge Männer und Testosteron. Und wir fragen uns in dem Zusammenhang, was traditioneller Weise mit jungen Männern geschieht. Auch bei uns in der Schweiz, beispielsweise im Graubünden, von wo wir herstammen, wurden diese lange Zeit einfach exportiert, indem man sie in den Solddienst gab oder sonstwie verdingte, also man sie quasi entsorgt hat: zur Sicherung vom sozialen Frieden zuhause, zur Sicherung vom Erb des Erstgeborenen und damit die Jungspunte nicht herumlungern, dem Alkohol verfallen oder die Nachbarstochter schwängern. Und da zeigt es sich, dass es einerseits die historische Situation vom Exportieren dieser jungen Männer gibt – auf der anderen Seite aber auch die historische Situation vom Aufnehmen dieser Menschen, indem sie in Onkel-Gesellschaften hereingebracht werden, wo sie sich sozialisieren.
M.K. Das ist jetzt natürlich nur ein vermittelter Beitrag zum Thema Flüchtlinge, aber wir haben uns überlegt, dass wir gerne eine kleine Kulturgeschichte des Testosterons entwerfen wollen. Uns also anschauen, wie man in verschiedenen Gesellschaften zu verschiedenen Zeiten mit dieser Herausforderung umgegangen ist. Ob man diese allenfalls exportierte oder versucht hat, die jungen Männer in den sozialen Kreis einzugliedern, indem diese eingemeindet wurden über bestimmte Kulturtechniken, sei es über Sport oder andere kulturelle Praktiken. Und das wäre jetzt für uns so eine Thematik die es erlaubt, einen neuen Fokus und neue Perspektiven auf die sogenannte Problematik zu werfen, die auch massiv den Horizont wieder erweitern würden. Vor allem gilt es das Problem nicht grundsätzlich bei denen zu sehen, die kommen, sondern auch aufzuzeigen – dass es uns genau so betrifft.
An welcher Thematik arbeitet ihr gerade für die aktuelle Ausgabe?
C.V. Im Moment sitzen wir an einer Ausgabe, die sich mit dem Thema Pornographie beschäftigt. Das klingt jetzt weitaus aufregender als man erwartet – wenn man sich einmal genauer mit der Thematik beschäftigt.
Inwiefern?
M.K. Pornographie verliert tatsächlich jegliche Form von Anrüchigkeit oder Geheimnis und für uns ist wirklich nur erstaunlich dass man darüber nicht offener spricht. Gleichzeitig verfolgen wir, wie es eine Sprache gibt, über Pornographie zu sprechen, die sehr differenziert an die Thematik herangeht. Wo es nicht einfach um Lust oder Ekel primär geht, sondern man kann relativ sachlich an die Geschichte herangehen, und wir sind nur erstaunt, dass das nicht früher gemacht wurde.
C.V. Also dass wir nicht ein freieres und offeneres Sprechen darüber entwickelt haben. Beispielsweise stellen wir fest, dass Kinder im Alter von elf oder zwölf Jahren ihren ersten Kontakt mit Pornographie haben. Und die Schulen reagieren darauf mehrheitlich disziplinarisch, weil Kinder keine Pornographie konsumieren dürfen – auch aus rechtlichen Gründen. Und das führt letztlich dazu, dass so eine Art diskursiver Leerraum entsteht. Wenn man schliesslich weiss, dass sie das machen, aber keiner darüber offen sprechen kann und auch Lehrpersonen sich nicht in die Gefahr bringen dürfen davon zu wissen, weil ihre Schüler damit einen gewissen Gesetzesverstoss begehen, dann ist es umso wichtiger, dass Kinder und Jugendliche mit ihrem Pornographie-Konsum nicht allein gelassen werden dürfen. Dass sie Zugang zu einer Sprache haben, die ihnen ganz nüchtern erklärt, was sie sich da reinziehen.
M.K. Tatsächlich haben wir es von zwölf bis achtzehn Jahren mit einer juristischen Grauzone zu tun. Das heisst, Pornographie darf erst ab der Volljährigkeit zugänglich gemacht werden. Der erste Kontakt erfolgt aber schon mit elf oder zwölf. Dazwischen, in all den Jahren, sind Jugendliche total auf sich allein gestellt und konsumieren natürlich en masse Porno-Filme. Und da möchten wir mit diesem Heft ein wenig Aufklärungs- und auch Spracharbeit leisten.
Und wie schafft ihr das?
C.V. Es zeigt sich, dass wir auf der einen Seite dieses Schweigen haben. Eine ganze Generation wird über Porn Hub aufgeklärt, aber darüber wird nicht gesprochen. Auf der anderen Seite lässt sich verfolgen, dass wir eine extrem elaborierte Wissenschaftssprache haben, die seit vierzig Jahren über Pornographie spricht. Und eigentlich ist es Blödsinn, diese nicht zu nutzen. Das ist letztlich unser Anliegen: zu zeigen, dass sich ganz nüchtern und normal über das Thema reden lässt und dies auch schon längst gemacht wird. Es ist nicht so, dass sich Geistes- und Sozialwissenschaften immer für Pornographie interessiert hätten – das ist auch ein relativ junges Phänomen – aber seit diesen vierzig Jahren haben wir da jetzt eine Sprache, eine gute und differenzierende.
Wie muss man sich das vorstellen?
M.K. Es gibt mittlerweile eine lose akademische Disziplin, die sich Porn Studies nennt. Diese rekrutiert sich mehrheitlich aus den Gender Studies und es sind auffallend viele Frauen, die sich das Thema vorgeknöpft haben: teilweise aus einer feministischen Perspektive, teilweise aber auch aus einer post-feministischen mehr medientheoretischen Perspektive. Diese Filme werden dann tatsächlich en detail analysiert, was man da sieht und auch darüber Auskunft gegeben, was man da konsumiert, wenn man einen Geschlechtsakt verfolgt. Konsumieren wir nur die sich bewegenden Genitalien? Oder konsumieren wir Geschlechterverhältnisse, Machtverhältnisse, interethnische Verhältnisse und so weiter? Und vieles deutet darauf hin, dass sehr viel gesellschaftliche Komplexität ob bewusst oder unbewusst mitkonsumiert wird.
C.V. Schliesslich stellen wir auch fest, dass der wissenschaftliche oder medientheoretische Diskurs längst wieder in die Produktion von Pornographie zurückfliesst. Es gibt eine Reihe von feministischen Porno-Produktionen oder es gibt beispielsweise auch eine feministische Kunsthistorikerin die Pornos produziert.
M.K. Und die haben natürlich alle diese Literatur aus den Porn Studies gelesen. Ein Beispiel, das immer wieder aufgeführt wird, ist das Buch „Hardcore“ von einer Linda Williams, die wirklich medienwissenschaftliche Pionierarbeit geleistet hat. Sie hat darin auch eine Kulturgeschichte des Pornofilms dargelegt und wir stellen fest, dass dieses Werk von feministischen Porno-Produzentinnen auch wirklich gelesen wurde und Anlass dazu gegeben hat, neue Formen von Pornographie zu entwickeln. An diesem Beispiel sieht man sehr schön wie auch Geistes- und Sozialwissenschaften wieder zurückfliessen in die Kultur und zu neuen kulturellen Innovationen beitragen.
Also Spracharbeit zu leisten, die dann wieder Eingang in die Kultur findet. Ist das auch ein grundsätzliches Ziel der Avenue?
C.V. So kamen wir letztlich unter anderem auf die Idee das Magazin zu gründen. Dass wir unserer Sehnsucht aber auch den ganzen Menschen, die medial wie ein Stück weit obdachlos sind, ein Zuhause, ein Medium und eine Sprache geben wollen oder einen Raum, in dem sie sich wiederfinden, entdecken und diskutieren können.
Im Netz:
Comments